Freitag, 4.Juli 2014. Ich sitze in einem kleinen Appartement im französischen Département Hautes-Alpes. Die 30qm teile ich mit drei belgischen Freunden sowie unseren zweirädrigen Untersätzen. Im TV köpft Hummels die deutsche Nationalmannschaft ins vermeintlich schwere Halbfinal gegen Kolumbien oder Brasilien. Große Stimmung will bei mir fußballbegeistertem Zeitgenossen nicht aufkommen. Müde von Arbeitswoche, langer Anfahrt und Pastaschlacht surfen wir uns noch durch diverse Wetterberichte. Draußen blitzt und donnert es, der Regen prasselt aufs Dach. Die Transalp erprobten Flamen sind dagegen guten Mutes, „wir sind hier richtig“, noch nie haben sie die Alpen mit Sonne gesehen. Startnummern mit dem Titel „Marmotte“ heften wir an die Räder. Wir verhalten sich wohl die echten Murmeltiere bei Aussicht auf Regen und baldige Anstrengung? Sa 5.Juli 2014. Das aus heutiger Sicht sicherlich als überbewertet einzustufende Tagesziel steht; 18Uhr müssen wir irgendwo vor einem Fernseher sitzen, Belgien wird gegen Argentiniern um den Einzug ins Semifinale spielen. Idealerweise sehen wir das im Rennrad-Mekka Alpe d`Huez. Vorher stehen noch der Col de Glandon zum Frühstück, sowie Télégraph und Galibier zu Mittag und Dessert auf dem Speiseplan. Nach gemütlichem Morgen stehen wir auf feuchtem Asphalt und der ein oder anderen glitschigen escargot. Die Startlinie ist weit weg. Keine Helikopter, keine Musik. Es riecht weder nach Croissants noch nach Café au lait – nur grüne Hecken und jede Menge flämisch und niederländisch sprechende Menschen auf ihren Rädern. Hin- und wieder ein Spanier. Kein Deutscher. Sicher haben die Teutonen noch gestern ihre „Handtücher“ an der Startlinie ausgebreitet und starten ca. 6000 Plätze weiter vorn als wir. Erstaunlicherweise sind die Temperaturen hoch und es sieht aus als würden Wolken und Nebel komplett aufreißen.
Die Belgier neben mir sind leicht nervös. Ist gutes Wetter nach ihrer erfolgreichen und regengesättigten Alpenquerung letzten Jahres ein gutes Omen? Die ungleichmäßigen 2h hinauf zum Col de Glandon laufen dann recht gut für uns, wir strampeln stetig links und kommen gut voran. Leider ist hier oben noch nichts zu sehen von französischen Delikatessen, die Landschaft ausgenommen, versteht sich.
Die folgende erste Abfahrt wird neutralisiert um den Stress auf dem engen Bitumstreifen entgegenzuwirken. Also genießen wir kurz das Panorama am Pass, und ich passe aufgrund heftiger Knieschmerzen die Pedalplatten-Stellung an. Dann geht’s runter ins nächste Tal. Doch anstatt hier ein petit-déjeuner einzunehmen, nutzen wir die vermeintlich noch egalisierte Zeit um Sonnencreme aufzutragen. Wirklich ein gutes Omen? Entgegen der abgesprochenen Taktik fahren wir im folgenden Flachstück viel zu oft im Wind bis zum Fuß des Télégraph. Zumindest haben wir so immer eine frische Briese im Gesicht, bevor es in die Steigung geht. Im unteren Teil des sehr gleichmäßigen Anstieges des Télégraph merke ich, dass ich wohl beim bisherigen Verzehr etwas zu timidement war und tanke noch einmal kräftig auf. Belgische Riegel und Waffeln bestimmen das Menu hier. Die Gedanken schweifen danach gen folgendem Galibier und der Angst vor hohen Temperaturen am Schlussanstieg. Auch überlege ich, wie ich wohl hier mit meinem Fort Rennrad gefahren wäre. Mit dem 11Jahre alten Aluminium Schwergewicht und klassischem 39er Blatt wollte ich ein Jahrzehnt nach Picardellics-Einstieg und Ötzi noch ein würdiges Schlussrennen fahren. Zwei Risse am Steuerrohr haben diesen Plan aber vor 5Wochen zu Nichte gemacht. Sicher ist es kein Nachteil nun auf einem italienischen carbon bici zu sitzen, da bin ich mir jedenfalls sicher. Als ich wieder nach vorne schaue, haben sich zwei meiner belgischen Begleiter abgesetzt. Angesichts ihres Pausenmanagements bin ich mir aber sicher, später wieder zu ihnen aufzuschließen. Und so sehen wir uns tatsächlich am Fuß vom Galibier in Valloire wieder. Baguette mit frischem Camembert hält allerdings auch mich vom Durchfahren ab. Nach kurzem Imbiss und Smalltalk machen wir uns auf, um bei der Wertung Souvenir Henri Desgrange, dem Tourhöchstpunkt, mitzufahren. Je höher wir kommen umso mythischer wird die Angelegenheit. Es ist wirklich beeindruckend diesen Berg mit soviel anderen Radlern hochzudrücken. Es herrscht eine beeindruckende, wenn auch ruhige Stimmung. Im Gegensatz zu italienischen Veranstaltungen ist das Fahrerfeld merkwürdig still. Im unteren Teil werde ich von meinen Begleitern bei jedem versuchten Witz sogar entsetzt angeschaut. Jeder schnauft jetzt leise vor sich hin und pedaliert sich stoisch vorwärts. Ein Zug von eleganten Dampflokomotiven bahnt sich seinen Weg bergan. Bei uns liegt noch genug Druck auf dem Kessel, so dass wir uns meist links halten – Überholspur. Plötzlich sehe ich den ersten Landsmann, unverwechselbar, ein Collo`s Trikot. Hier. Ich will losplaudern, eine kleine conversation über Radeberg, Collo, die Picardellics, Dresdener Lokomotivparaden – sprich die sportliche Lage in der Heimat. All das spielt sich aber nur in meinem Kopf ab. Über die Lippen kommt ein „Collo, Radeberg, he?! .. Gute Fahrt..“. Ist es die dünne Luft? Kurz darauf passieren wir die Tunneleinfahrt, letzte Rampe und dann stehen wir oben am Galibier - 2645m. Schon ein kleiner emotionaler Höhepunkt hier oben zu sein. Dann werde ich dank der unweigerlichen Pause langsam nervös. Auf hohen Bergen bleibt man nicht lang, meinte ich gelernt zu haben. Nachdem unsere Flamen alles Notwendige besorgt haben stürzen wir uns endlich in die Abfahrt. Mein C59 Untersatz ist extrem laufstabil und steuert fast allein über den Asphalt und durch die Kurven. Kein Einziger im immer noch dichten Fahrerfeld kann dem etwas entgegensetzen. Hin und wieder bilden sich bei starkem Gegendwind kleine Gruppen in Flachstücken. Doch der italienische Untersatz ist unwiderstehlich und bringt mich auch über die kurzen Gegenanstiege rasend an den Fuß der letzten Hürde. Alpe d´Huez – zum Diner s´il vous plaît. Nach kurzem Uhrenvergleich offenbart sich die prekäre Lage. Es wird knapp zum Anstoß vor einer Flimmerkiste zu sitzen. Hochmotiviert sprinten wir also in den Anstieg, getragen auch vom lauten Support am Straßenrand. Doch die belgische Anfangsoffensive verpufft im weiteren Verlauf, so dass ich selber zusehe so schnell wie es geht an Höhe zu gewinnen, um der Sonne zu entrinnen. Das fällt im unteren, steilen Teil sichtlich schwer. Aber irgendeine Kraft zieht mich weiter, immer weiter hoch zum nicht ganz so schönen Ski-Ressort. Viele Bilder sind jetzt im Kopf, Guerini, Pantani, mein ramponiertes Knie vor 3Jahren, der Ötzi, das traurige FortRad – verbannt in dunkle Kellergewölbe, Textzeilen für diesen Report kommen hoch und verschwinden im selben Moment, Erinnerungen an Mountainbike Winterausfahrten durch dickes Schneegestöber im Schwarzwald ziehen vorbei. Ach nein, das war ja 2013. Jetzt aber schnell durch die kurze Tunneldurchfahrt, schon im Ort. Fast geschafft. Den letzten Kilometer kann ich noch mal vollends genießen. 5nach6 bin ich im Ziel und halte mich erstmal von allen TV Geräten sehr weit fern. Gedanken? Zéro. Sonntag 6. Juli. Zurück bleibt ein großartiges Erlebnis bei besten Bedingungen. Keine 50 deutschen Fahrer waren am Start dieses Klassikers. Belgien ist raus aus der WM. Die Knie und Beine hingegen sind ganz gut. Trotzdem verzichten wir auf ein mögliches Bergzeitfahren Alpe d`Huez und verschwinden wieder in alle Himmelsrichtungen. Unsicher bin ich mir noch was mir die Endplatzierung 3333 sagen möchte?