+++ Sachsenmeister beim Minnedienst im Dreiländerdreieck verschollen +++ zwei einsame Picardellics widerstehen dem peitschenden Regen +++ Neumis Windbeuteldiät schlägt an +++ in Verbindung mit Trainingsplan Nr. 58/2008 (in der Ausführung 136) Platzierung eingefahren +++ Neff-Spitze rettet 37 Sekunden Vorsprung über die Ziellinie +++ Holgi locker im Rennen der Männer +++ er bewahrt Anstand und Würde +++ umfassender Bericht der Regenschlacht im Hochgebirge folgt bis Dienstag +++
In einer Gesellschaft, in der offensichtlich nur noch der Moment zählt, in der Spaß zunehmend zum Lebenszweck wird, in einer Gesellschaft in der ‚gestern' und ‚morgen' zu fiktiven Begriffen einer ewig feiernden Menge werden, gibt es nur noch wenige tapfere Männer und Frauen, die auf den Traditionen ihrer Vorfahren die Zukunft ihrer Kinder bauen. Und diese Wenigen, diese Tapferen, nennen wir sie schlicht ‚Picardellics', sie stellen sich dem rauen Wind hoher Erwartungen.
Betrachten wir zum Beispiel ein Wochenende im Juli und den Sachsenmeister 2008. Im gesunden Vertrauen auf zahllose kilometerintensive Dienstagsrunden widmet er sich den Sehnsüchten einer Frau. Mit der Klampfe und dem Klavier im Arm singt er Lieder voller Leidenschaft und Wehmut, während sein BDR-Wertungspunktekonto schmilzt wie Dezemberschnee in der heißen Julisonne. Ein jeder wird mir zustimmen, dass eine erfolgreiche Balz infolge der belasteten Stimmbänder und der gestressten Oberarmmuskeln tiefer Ernst und raue Wirklichkeit ist.
Oder betrachten wir Jantel, ein Urgestein der Picardellics. Sieht man von seinem Sockengeschmack ab, ein Traditionalist per excellense. Der ersehnte Höhepunkt vieler Dresdner Radlfreunde (der so genannte ‚Raceday' - sächsisch, umgangssprachlich, entspricht dem Hochdeutschen ;Radrennen für Jedermann') steht unmittelbar bevor, Jantel verbringt 5 Tage, eine gefühlte Woche, mit Frau und Schwager, Schwägerin und Kindern und Hund und Katze beim Paddeln. Ohne Rad. Ohne Training. Ohne Systematik. Zeit dehnt sich endlos. Hier werden Traditionen gelebt, hier werden Familien dauerhaft zusammengeschweißt. Paddeln - die UNO-Menschenrechtskommission prüft auf Verstoß gegen das Folterverbot.
Und selbst die daheim gebliebenen Picardellics schenken sich nichts. Ein Rundstreckenrennen gleich hinter Freiberg fordert zu morgendlicher Stunde den ganzen Mann. Neumi drückt bereits auf der Anfahrt, so dass mir die Stirnadern anschwellen. Seine Gesprächigkeit wird vom Wind verweht, viele Meter hinter ihm klingt mir nur mein Schnaufen in den Ohren und der Puls treibt die Augäpfel im Wechsel aus den Höhlen. Unbeirrt fährt Neumi weiter. Mit letzten Kräften erreiche ich die Anmeldung.
Die Senioren 3 und 4 drehen bereits ihre Runden durch Großwaltersdorf. Dem reduzierten Schlafbedürfnis älterer Menschen geschuldet starteten Sie bereits vor Sonnenaufgang. Und sie erwischen lediglich auf den letzten 3 Runden den einsetzenden Regen. Wir stehen inzwischen vor Kälte zitternd und angstschlotternd (die Angst vor nassen Kurven bricht gerade aus) unter dem Vordach des Gasthofes. Während ich zittere, schmiedet Neumi schon wieder Pläne. Sein Redefluß unterbricht meinen Versuch ihm mitzuteilen, dass ich nicht fahren möchte. Es schüttet inzwischen wie aus Eimern. Ich sorge mich um meine noch weißen Überschuhe und die schicken neuen Socken. Ich riskierte einen neuen Versuch, die Sache abzublasen. Mut ist jetzt unabdingbar. Nur charakterstarke Fahrer wagen es bei Regen abzusagen. Nur charakterstarke Fahrer ertragen das Gekicher der anderen Starter.
‚Neumi, ich ...', Neumi schwang sich auf sein Rad und reiht sich im orkanartigen Regen an der Startlinie ein. Der Regen spült meine Tränen weg.
‚Neumi, ich fahre n...'. Neumi rückte zur Seite und winkte mich ran: ‚Hier ist noch Platz'. Von der anderen Seite drückte ein Fahrer und ich zog das Bein weg, klickte, um den Überschuh zu schützen, ins Pedal ein und habe endlich Blickkontakt zu meinem Vereinskameraden.
Neumi nickte und kam mit dem Startschuß in Fahrt. Seine Heckwelle zog mich hinter ihm her. Ich kämpfte eine Runde, 3 Kilometer, um zu ihm aufzuschließen. Eingangs der zweiten Runde ging Neumi in die Führung und verschärfte das Tempo. Die beiden Linkskurven liesen jeweils mein Leben vor meinem geistigen Auge Revue passieren. In meiner Andacht war ich nicht allein, das restliche Fahrerfeld zögerte sich gleichfalls um die rutschigen Kurven. Sämtliche Ausreisversuche scheiterten spätestens an der reduzierten Kurvengeschwindigkeit eines besonnenen Feldes.
Das Feld blieb 7 Runden zusammen. Erst dann gelang es den üblichen Verdächtigen sich ein wenig abzusetzen. Keine 100 Meter vor uns fuhr die 5köpfige Spitzengruppe. Die Verfolgung zerriss das Hauptfeld. 7 weitere Fahrer folgten der Spitze. Die 5 Fahrer konnten ihren Abstand immer noch nicht ausbauen.
Der Regen hatte nachgelassen und uns nässte nur noch die Gischt der vorausfahrenden Fahrer. Das Grau meiner Überschuhe passte zu meiner Stimmung. Um diese etwas aufzuhellen, versuchte ich den nötigen Ernst ins Rennen und Spannung in die Oberschenkelmuskulatur zu bekommen. Der Abstand zur Spitze wurde geringer, mein Atem tiefer, die Stimmung besser. Dann jedoch wieder der Anstieg. Lächerliche 40 Höhenmeter. Der Abstand blieb weiter konstant. Die Gruppe lief nicht wirklich und so begann das gegenseitige Belauern. Der RV Leipzig lösste den Blick von seinem Mäusekino und attackierte in der vorletzten Runde an dem steilsten Stück. Eine lange halbe Runde wirkte der Versuch ernsthaft. Erst dann drehte sich Mäusekino um und ergab sich der geballten Übermacht seiner Verfolger. In unser Hatz flogen wir an einem Fahrer der ehemaligen Spitzengruppe vorbei. Ausgezehrt konnte er sich nicht in unserer kleinen Gruppe halten.
Die letzte Runde .
Wiederum griff Mäusekino an, vorgespannt und hellwach folgte ich ihm. 2 Radlängen fehlten mir zum Windschatten des Leipziger Fahrers. Die ersten Schmerzwellen schlugen im Zentralhirn ein. Noch widerstand der Zahnschmelz den knirschenden Zähnen. Noch beherrschte der Willen den Körper.
Noch eine Radlänge Abstand und 1500 Meter zu fahren. Ein Blick hinter mich zeigte mir Keller. Damit war die Möglichkeit eines Wechsels hinfällig, zu gut hatte ich noch die vertrauliche Kommunikation zwischen Mäusekino und Keller in Erinnerung. Gut, es gibt Momente im Leben die konsequentes Handeln erfordern. Den Lenker unten gefasst und endgültig herangehackt. Mit meiner Ankunft nimmt Mäuschen raus und die erste Linkskurve auf die Gegenwindgerade droht unmittelbar vor uns. Wir ziehen erstmalig ohne zu bremsen rum. Jetzt sind noch 800 Meter zu fahren. Wir sind zu dritt und keiner möchte in die Führung. Ein Blick über die Schulter zeigt, dass Neumi mit zwei weiteren Fahrern aufgeschlossen hat.
Die letzte Kurve.
Augen zu und Gehirn aus.
Das Hinterrad rutscht und fängt sich wieder. Ich komme als erster aus der Kurve, halte den Kopf tief gesenkt und ziehe am Lenker. Ein Blick nach vorn. 50 Meter vor mir stehen drei Fahrer und beäugen sich kritisch. Verdutzt schaue ich noch mal hin. Da ist der Rest der Spitzengruppe. Kunath konnte sich offensichtlich absetzen und so sind noch 3 Fahrer mit dem Kampf um Platz 2 beschäftigt.
Mein Schwung trägt mich zügig an die drei Fahrer heran. Auf der Ziellinie erreiche ich das Hinterrad des Vierten. Verträumt. Verpatzt. Das nächste Mal bitte mit offenen Augen um die Kurve....
In zweistelliger Höhe regnet es Wertungspunkte auf Neumi, als dieser unmittelbar hinter mir die Zielloinie überquert.
Die Straßen trocken ab, während wir inmitten der jubelnden und tobenden Menschenmassen auf die Auszahlung der Siegprämien warten. Neumis Ehefrau hatte am heimischen Herd eine Visison, ist kurzfristig angereist und übernimmt die finanziellen Transaktionen für Ihren erschöpften Mann. An die geplante gemeinsame Rückfahrt ist nicht mehr zu denken. Neumi wird komplett ins Familienleben integriert und winkt mir verstohlen aus der Familienkutsche zu.
Während mich der Westwind durch den Tharandter Wald nach Dresden treibt, nähert sich Holgi unaufhaltsam Großwaltersdorf. Dem jugendlichen Alter der Starter Rechnung tragend, wird das Rennen erst 15.30 Uhr angepfiffen. Holgi hatte also eine gute Stunde Zeit zu frühstücken und steht zufrieden, satt und ausgeschlafen am Start.
Die 30 Runden im ABC-Feld werden lang. Die Vorgabe für die Fahrer, die dieses Jahr noch kein Rennen gewonnen haben (C), ist schnell aufgebraucht. Holgi schaut sich noch an, wie sich die späteren Platzierten absetzen und trifft dann eine sehr vorausschauende Entscheidung. Im Hinblick auf die für Sonntag geplante Ausfahrt mit mehreren erfolgreichen Seniorenfahrern, beendet er das Rennen nach der Hälfte der Distanz.
Trotz dieser kräftesparenden Entscheidung lässt Holgi am Sonntag die Bobbahn aus. Sein Versuch in Pesterwitz zu provozieren, um die Bobbahn zu kompensieren, endet mit einem Desaster. Neumi, erfahrener Familienvater, fängt ihn auf und begleitet ihn Trost spendend bis zum Gipfel des Hügels.
Begeistert ob der Zähigkeit, Ausdauer und Erfahrung, die Holgi im Zuge der gemeinsamen Ausfahrt zeigte, werden wir seine Bewerbung für das Picardellics-Master-Team wohlwollend prüfen. Seinen Antrag auf Absenkung der Altersgrenze um 15 Jahre erwartend,
Thomas