+++ 130 Kilometer in strahlendem Sonnenschein +++ neckische Anstiege aus dem Muldental +++´faszinierende Rapsfelder rechts und links der Strecke +++ gigantische Schornsteine am Horizont +++ Matze über 60 Kilometer im Führungsduo +++ Neumi mit sprintstarken Beinen als 13. im Ziel +++ Mischka kommt ebenfalls zurück nach Zwenkau +++ Jantel geräuschlos in der Spitzengruppe +++ Luma - die zähe Tempomaschine der letzten 30 km +++
Irgendwann im Frühjahr des Jahres 2008 geschah es, dass am Rande eines Leipziger Radrennens, ein Großer des sächsischen Radsportes, nennen wir ihn Harald, mit einem von uns ins Gespräch kam. Haralds ausgeprägter therapeutischer Ader gelang es, das Bersten splitternden Carbons, das knirschende Falten von Alu und das spanabhebende Schmirgeln von Stahl auf Asphalt aus unserem Gedächtnis zu verbannen und unsere Blicke optimistisch auf einen sonnigen Pfingstmontag, eine selektivere Strecke und packende Zwei-, Drei- und Mehrkämpfe zu lenken.
Wir schüttelten das Trauma von 2007 (vgl. auch den damaligen Bericht: "Flugphasen von Carbon. Eine Aufprallstudie mit Ausführungen zur seitlichen Belastbarkeit von Shamalspeichen unter Beprobung der Reißfestigkeit ausgewählter Vereinsbekleidung") endgültig ab und meldeten nach. Unsere Meldung wurde getragen von der Hoffnung auf harte, schweißtreibende und geradlinige (in den Kurven angepasste) Auseinandersetzungen mit anderen großen Vereinen, die zum Teil nicht das Glück der idyllischen Wohnlage des Elbtals aufweisen. So freuten wir uns zum Beispiel, die Mädels und Buben aus dem fernen Münsterland wiedersehen zu können, die uns im Sommer des letzten Jahres nur sehr kurz auf der welligen Strecke des Racedays begleiten wollten. Oder die wortgewaltigen Eisenschweinkader auf Alurahmen, mit dem feinen Gefühl für angebliche Absprachen. Die Jungs von Bike Kult hatten wir auch schon lange nicht mehr gesehen. Straßacker, ach ja , Straßacker, da werden Erinnerungen wach an die Deutschlandtour 2005. Die nach prähistorischen Philosophien agierenden Kopfjäger, schienen im letzten Jahr beim Napoleoncup ernsthaftes Interesse am Radsport gefunden zu haben und würden sicher ebenfalls gern den Wettstreit aufnehmen.
Am Start in Zwenkau standen 10 ausgewählt waagemutige Picardellics, gewappnet der Dinge die da kommen werden. Selbst Mischka, der nach Abschluss seines Studiums einen bisher unbekannten Eifer bei der Bereitstellung von Lohnsteuermitteln erkennen lässt, löste sich von seinem Arbeitsplatz und streifte weiße Überschuhe über, um das edle Team zu verstärken.
Das Weiß der Überschuihe des Picardellics-Elite-Teams strahlte am frühen Montagmorgen in Zwenkau. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre schöpfend, fanden sich fast alle Teammitglieder rechtzeitig an der Startaufstellung ein. Die Helfer begannen mit der Abtrennung der einzelnen Startbereiche. Ein einzelner Triathlet mit einer Flasche Eistee im Flaschenhalterstand fröstelte im ärmellosen Trikot ganz vorn am ersten Gitter. Als dann noch ein zweiter Fahrer mit gelber Startnummer in der ersten Reihe auftauchte, wurden wir unruhig und stellten uns ebenfalls in die erste Reihe. Mit dem Eintreffen der massigen Fahrer des VC Leipzig wurde aus der ersten Reihe die siebenunzwanzigste Reihe. Allerdings zogen sich die Leipziger schon kurz nach dem Start aus dem aktiven Renngeschehen zurück und wurden erst im Ziel wieder gesehen. Trödeldirk kam noch rechtzeitig vorm Startpfiff und fühlte die kleinen Lücken, die ihm die Leipziger Sportfreunde gelassen hatten aus.
Die zahlreichen Ordner sorgten resolut unter dem Rest der startwütigen Jedermänner für Ordnung und Übersicht. Die Startblöcke füllten sich zügig. Der Geruch von Massageöl legte sich über die dicht geschlossenen Reihen. Mit Tränen in den Augen verabschiedeten die anwesenden Ehegemahlinen ihre Gatten. Spitzentaschentücher wurden geschwenkt und Schluchzer unterdrückt.
Das Feld setzte sich in Bewegung.
Ohne Eisenschweinkader. Wie umfangreiche Recherchen ergaben, ziehen sich die Mitglieder dieses ehemals stolzen Vereins immer weiter aus der Zivilisation zurück. Sie sind nur noch vereinzelt in finsteren Wäldern, auf Zwergrädern hopsend anzutreffen. Einzelne,ausgewählte Exemplare werden an der kurzen Leine dominanter Frauen auf der Straße ausgeführt. Wie schon letztes Jahr zum Napoleoncup deutlich erkennbar, stirbt hier in Folge der steigenden Stahl- und Eisenpreise ein weiterer Verein sang- und klanglos aus.
Der Druck der Marktwirtschaft füllt die damit frei werdenden Nischen und trotz des bedauernswerten Ausfalls nahmen 700 Starter zögerlich Fahrt auf. Keiner wollte wirklich in den leicht wehenden Wind. Erst Markleeberg mit seinen Straßenbahnschienen und der folgenden schmalen Straße durch den Tagebau führte zu einem etwas höheren Tempo des Feldes. Während es an der Spitze noch ruhig und gelassen zuging, verknoteten sich etwas weiter hinten schon die ersten Leiber und Räder. Sandra kam noch rechtzeitig zum Stehen, wurde jedoch von den nachfolgenden Fahren umgerissen und musste sich mühsam aus dem Wust von Material und weichen Körpern kämpfen. Die große Spitze war weg und mit ihr die spätere Siegerin der Frauen, Beate Zanner.
Die Steigung aus dem Tagebau heraus nutzen einige Fahrer für eine Tempoforcierung. Erleichtert nahm ich Matzes frühzeitiges Engagement zur Kenntnis und lies mich gern wieder im Windschatten des Feldes mittreiben. Matze kam mit 3 Leuten ein Stück weg, bis sich Kopfjäger Schnie bemüßigt fühlte, die Lücke zu zu fahren. Schnie, unser bester Mann undercover, vollzog den Anschluss, um sofort wieder abreißen zu lassen. Bis das Feld begriffen hatte, wie komplex der Fahrstil von Schnie zu bewerten ist, war Matze mit einem weiteren Fahrer in den Weiten der Leipziger Tieflandsbucht entschwunden. Ein tollkühner Fahrer kämpfte sich kilometerlang mühsam an die Beiden heran. 15 Kilometer später war er froh den Anschluss gefunden zu haben, und kam schnell zurück ins Feld, um die frohe Botschaft die Ausreißer gesehen zu haben zu verkünden.
Matze und sein Partner zogen derweil allein weiter. Im Feld übernahmen Mischka und beide Dirkse die Tempogestaltung, um Matze den Rücken frei zu halten. Nachdem Matze außer Sicht war, sank das Interesse des Feldes an einer Verfolgungsjagd und die drei breitschultrigen Picardellics überließen die Position im Wind großmütig anderen interessierten Fahrern.
Grimma, die Stadt an der Mulde, die Stadt mit dem ersten Anstieg, rückte näher. Das Feld nahm spürbar Fahrt auf und wurde kompakter. Hier wollte jeder an der Spitze fahren. Matze hatte seinen Partner inzwischen verloren, da dieser betroffen ob der Offenbarung von drohenden Bergen und der verbleibenden, langen Reststrecke die Füße gehoben hatte. Allein setzte unser tapferer Held seine Fahrt über die nächsten drei Hügel fort.
Der sächsische Seniorenvizemeister 2008 und gebürtige Grimmaer führte das Feld mit straffer Hand und kräftigen Tritten durch Grimma in den gefürchteten Anstieg. Geschickt stellte sich ein Koüpfjäger am entscheidenden, steilen Abschlußstück dem Feld in den Weg und streckte damit das Feld ein weiteres Mal. Die Fahrer die den endlosen Bogen um Schnies Hüften genommen hatten, stürzten sich todesmutig in die winklige und kurvenreiche Abfahrt zur Papiermühle Golzern. Allerdings hatte der Veranstalter sich sehr viel Mühe mit der Streckensicherung gemacht. Jede noch so kleine Kurve war, rechtzeitig und auch für kurzsichtige Fahrer erkennbar, ausgeschildert. Zahllose Ordner sicherten die Ortsdurchfahrten und Kreuzungen. Wieder an der Mulde angekommen, warte der Zweite und von Streckenkennern, als der Schwerste bewertete, Anstieg auf uns.
1000 Meter lang. 100 Meter hoch. Weit oberhalb der Vegetationsgrenze wartet die Bergwertung auf das UCI-Feld. Üppiges Edelweiß an den Hängen. Alpenhörner erklingen.
Unser Erkundungsritt am Vortag, als zwei Picardellics sich aufmachten, die Berge zu suchen, trug nun seine Früchte. Detailierte Ortskenntnis schlägt rohe Kraft.
Mir gelang es die einzelnen Meter rückwärts mitzählend in Sichtweite der Spitze zu bleiben. Dicht am Bordstein suchte ich mit meinen Weg, vorbei an Franko, dem Kopfjäger, der am zweiten Anstieg Stehdienst hatte. Den schmalen Raum zwischen meinen Laufrädern und dem Bordstein versuchte ein Neff-Fahrer zu nutzen, um vorbei zu eilen. Sein Lenker passte noch locker in die 12 cm breite Lücke, allerdings blieb er mt seinem ausladenden Hinterteil an meinem Lenker hängen. Erleichtert registrierten die Anwesenden das nachlassende Kreischen seiner Felgen am Bordstein als er wieder im hinteren Feld versank. Jan beschloss das Feld an der zweiten Steigung und Neumi lies sich gemeinsam mit Luma sicher in der Mitte des Feldes über den Hügel tragen.
Mischka folgte der ausgegebenen Taktik und täuschte "steilen Berg" vor. Das Feld lies sich einlullen und hielt ein. Allerdings übertrieb Mischka sein Schauspiel und so rochen schon bald die ersten Fahrer die Finte und hetzten der davoneilenden Spitze hinterher. Hier heißt es für uns zukünftig geschickt agieren, um die kultbelastete Symbolik weißer Überschuhe nicht unnötig zu beflecken. Mit dabei bei der schnellen Verfolgungsjagt der Spitze, auch unsere beiden Dirkse. Kurz vor Großbothen vereinigten wir uns wieder glücklich und zufrieden. Sechs Picardellics-Fahrer in der Spitzengruppe und Matze immer noch allein in Führung.
Der Großbothener Berg konnte im Feld keinen bleibenden Schaden hinterlassen und so zogen die knapp 70 Fahrer gemeinsam weiter dem Ziel entgegen. Schaden richtete dafür die Phase beschaulichen Pedalierens nach dem Hügel an, als sich einige Räder und Fahrer verkeilten und zu Boden gingen. Neumi, etwas weit hinten in unserer Gruppe, musste runter vom Rad, wie beim Mikado zwischen den Gestürzten durchsteigen und dem Feld hinterher hecheln. Kraft, Willenstärke und ein Ziel vor den Augen ließen ihn schnell den Anschluss herstellen.
Inzwischen beschloss meine Kette unmotiviert zu springen, ein vorschnelles, neugieriges Vorderrad hatte zu lange am Schaltwerk geschnüffelt. Das Desaster von Greiz stand sofort vor meinem inneren Auge und ich fürchtete um die Konsistenz meiner Kette. Ein Kontrollblick mit Schwenk aufs Bankett zeigte jedoch keine Deformation von Kettengliedern. Jantel schluckte widerspruchslos den Staub und ich zog wieder zurück aus dem Dreck auf die Straße. Die technischen Probleme führten sofort einen Kopfjäger an meine Seite, der mir mit einem Mitgliedsantrag seines Vereins ( inzwischen mit dem modernen Motto: "Wir kämpfen nur gegen die Technik") drohte. Zwei Drehungen an der Stellschraube für den Bowdenzug sorgten für Ruhe im Getriebe und vertrieben den Kopfjäger mit seinem übereilten Antrag von meiner Seite.
Auf den verbleibenden 50 Kilometern zeigte Lutz der Gruppe, wie Führungsarbeit aussieht. Gnadenlos zog er am Lenker und hielt das Tempo über der magischen 4. In den Momenten, die Lutz zur Regeneration benötigte fand sich ein unerschöpfliches Reservoir an "Speichen", die ihr Heimatrennnen mitgestalten wollten. Und so fühlten wir uns mehr und mehr wie in einem Radrennen. Ernsthafte Ausreißversuche folgten, scheiterten jedoch an der nachhaltigen Verfolgungsarbeit des Feldes. Die Temposteigerung brachte Matze zurück ins Feld. Erschöpft genoß er nach 60 Kilometern vorm Feld die entspannte Atmosphäre in der kleiner werdenden Gruppe. Die drei Knaben aus dem Münsterland auf ihren blauen Versandhandelsrädern hatten sich schon die letzten Wochen im Vorfeld der Neuseenclassics rücksichtslos geschont. Sie streckten sich tief über ihre Lenker um die Ausreißer wieder zu stellen.
Damit verblieben immerhin 50 Fahrer, die gemeinsam auf die sieben Kilometer lange Zielgerade am Kraftwerk Lippendorf einbogen. Das Tempo blieb hoch und zögerliche Ausreißversuche blieben im Wind stecken. Nervosität im Feld machte sich breit. Keine der anwesenden Mannschaften schaffte es einen Zug zu formieren. Selbst die mitradelnden Picardellics, denen man früher eine gewisse mannschaftliche Stärke nachsagte, suchten sich einzeln ihren Weg zur Ziellinie.
Neumi schob sich in die Spitze des Feldes, versuchte noch sich Kapustes Hinterrad zu greifen und musste sich dann aber mit Platz 13 zufrieden geben. Während also die Picardellics sich mühsam einen Weg nach vorn bahnten, versuchten die ängstlichen Agapedias das Ende des Feldes zu erreichen, um ihrem Leitspruch "Aus dem Sprint halten wir uns raus" gerecht zu werden. Die delikate Würze des Radsportes ist manchem zu scharf.
Polizei und Rettungsdienste hatten ihre Erfahrungen aus den letzten Siegerehrungen mit den Picardellics gezogen und schirmten uns blitzschnell mit mehreren Hundertschaften Bereitschaftspolizei vor den anstürmenden Massen ab. Der Kauf von Plüschtieren und Unterwäsche war bereits seit Wochen im Leipziger Umland nur noch gegen Nachweis dringender Bedürftigkeit in Kleinstmengen möglich. An den Kontrollstellen im Zielbereich wurden derartige Wurfgeschoße rücksichtslos eingezogen.
Wahrend wir derart gesichert auf die Siegerehrung warteten, offenbarte sich der Nachteil neumodischer Radrennen mit Transponder: Radrennen werden nun nicht mehr auf der Ziellinie entschieden sondern entscheidend ist fortan das Startverhalten. Wir beobachten gespannt die weitere Entwicklung dieser seltsamen Auswüchse der Wettkampfgestaltung. Zögerlichkeit wird sich sicher nicht dauerhaft in der rauen Welt der Marktwirtschaft halten können. Ängstlichkeit kann nicht immer belohnt werden, liebe Agapedias. Abgerechnet wird wie immer zum Raceday.
Nach einem kurzen Besuch des Podiums, sorgten unsere Schutzmannen für einen schnellen Abtransport, da offensive Tröstungen durch die zahlreich erschienen Fans befürchtet wurden. Neumi wurde durch die beschleunigte Abreise um die Ehrung seines spektakulären 3. Platzes in der Altersklasse gebracht. Wir trugen unseren drittplatzierten Fahrer auf Händen bis Dresden und feierten den Rest der Woche bei Sekt und Wein, wodurch das Erscheinen des Berichtes etwas verzögert erfolgte. Ausgenüchtert,
Thomas