Zwei tapfere Männer, zu allem entschlossen,
zwei zierliche, schöne Frauen, einsam in den endlosen Weiten des hohen Nordens,
eine grenzenlose Herausforderung, deren maßlose Härte Verzweiflung sät.
Nach zwei radsportlich geprägten Flachstreckenwochenenden wollte Neumi seine Grenzen neu definieren. Er suchte und fand die ultimative Herausforderung: 1000 Höhenmeter auf gut 30 Kilometer, am zweiten Tag zudem noch der weltweit berüchtigte und gefürchtete Schulenberg und kernige Paves.
Die Suche nach Mitstreitern gestaltete sich für unseren rastlosen Neumi anspruchsvoll. Auf eine Teilnahme angesprochen, verweigerten gestandene, erfahrene Picardellics mit Blick auf Neumis astronomisches Trainingspensum und die oben geschilderten, absehbaren Qualen die Teilnahme.
Ein gemeinsames Mittwochstraining wurde mir schließlich zum Verhängnis. Neumi beendete seinen 12. EB auf der gemeinsamen Ausfahrt bereits nach 90 Minuten und ließ damit menschliche Züge in seinem maschinenhaften Fahrstil aufblitzen. Im naiven Glauben auf ein nahezu identisches Leistungsvermögen sagte ich vorschnell meine Teilnahme zu.
Das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Strahlend rollte Neumi Samstagmorgen auf den Hof und verkündete freudig, von nun an Taschengeld zu erhalten (vgl. „Spreewaldmasters“ , diverse kritische Anmerkungen zur Gleichberechtigung innerhalb langjähriger Ehen in finanziellen Fragen, April 2008). Wir teilten sein Glück und die 7 Euro 50 Cent brüderlich, beluden das KFZ amerikanischer Machart und begaben uns zur ersten Prüfung – 500 Kilometer über deutsche Autobahnen.
Neumi übernahm die Initiative und das Steuer. Beruhigt fiel ich nach den wenigen Minuten zwingend notwendiger Kommunikation in den Tiefschlaf.
Mit unsere Ankunft in der grünen Stadt Marlow setzte sich die Sonne durch. Die Wolken lichteten sich und blauer Himmel begleite den Start der RTF. Wir verzichteten hier wehmütig den Fahrern hinterherblickend und konzentrierten uns auf die Inspektion der für uns relevanten Strecke.
Zu absolvieren war ein 1,3-Kilometer langes Rundstreckenrennen, welches Bergkriterium genannt wird. Rechtsherum gefahren, überwindet die Zielanfahrt 40 Höhenmeter. Die letzten Meter über den Markt sind zudem noch mit dem beliebten norddeutschen großformatigen Pflaster versehen.
Der Abgleich unserer geballten Lebens- und Leidenserfahrung mit den angebotenen Strecken ließ die Entscheidung einfach werden:
- KT,A,B fiel aufgrund unseres unzureichenden Angestellten-Lungenvolumens weg,
- das Rennen der C-Klasse versprach wenig Chancen auf Unterhaltung in einem 30 Jahre jüngeren Fahrerfeld,
so, dass uns letztlich nur das angebotene Jedermannrennen blieb.
Ein schneller Blick auf die Starterliste genügte jedoch, um die Herausforderung des Rennens wieder gerade zurücken. Der Borgsdofer Busch (Bobu), seit Jahren auffällig im lizenzierten Fahrerfeld, würde dafür sorgen, dass keine Langeweile aufkommt.
Am Start des Bergkriteriums dominierte noch das Team Westpoint. Der Sprecher huldigte den Sieger der letzten Jahre. Der Startschuß erfolgte und 40 Fahrer rumpelten übers Pflaster. Auf der langezogenen, gegenwindigen Abfahrt übernahm ich fahrlässig die Spitze.
Beim Warmfahren hatte Neumi psychologisch geschickt, in der dünnen Luft des Schulenberges Schwäche vorgetäuscht, mein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt. Kurz nach der ersten Zieldurchfahrt mußte ich als einziger Fahrer eine riesige Pattexwolke durchqueren. Der Klebstoff setzte die Lungenbläschen zu und verklebte die Bronchien. 10 Runden lang zehrte ich vom Blutsauerstoff und versuchte die Lunge wieder frei zu husten.
Neumi setzte sich derweil schon mal vom Feld ab, in Ermangelung interessierter Mitfahrer kam er jedoch fügsam und gesprächsbereit zurück. Froh wieder die frische Luft der grünen Stadt Marlow atmen zu können, ging ich hinter ihm in die 11. Runde. Zu der Zeit war das Fahrerfeld auf 11 sieginteressierte Mitfahrer geschrumpft. Man beachte hier die interessante Duplizität der Zahlen und die daraus folgenden, weitreichenden Möglichkeiten.
Neumi zog mit seiner phantastischen Form auf einem phantastischen Rad sitzend, mächtig gewaltig durch und setzte sich mit einem zweiten Fahrer deutlich vom Feld ab. Ich blieb in der Führung und drosselte das Tempo ganz leicht. Die Führung wollte mir in den folgenden 10 Runden niemand streitig machen. Bobu versuchte zwar ab und an das Tempo wieder auf ein vernünftiges radsportliches Niveau zu heben, musste jedoch in Ermangelung von engagierten Mitfahrern zurückstecken.
Während Neumi sich gemeinsam mit der Nummer 180 weit vorn in den Wind stemmte, pedalierten wir relativ ruhig hinterher. Team Westpoint hatte still und leise abgespeckt und lediglich einen Fahrer in die Spitzengruppe delegiert. Die beiden führenden Fahrer waren lange ausser Sicht, ich hoffte bereits auf einen glücklichen Ausgang für das wagemutige Duo, da erspähte Adlerauge Bobu eingangs der 19. Runde die beiden Ausreißer am Zielberg. Sprintertypisch fuhr er die 80 Meter zu und die verbliebenen 8 Fahrer ran.
Auf den letzten 5 Runden herrschte relative Ruhe im Feld. Jeder Atemzug wurde genossen, der kleinste Windschatten genutzt. Für die vorletzte Runde überredete ich meine Beine und Lunge nochmal zu einer gemeinsamen, koordinierten Fahrt im Wind, um Neumi eine vernünftige Ausgangsbasis zu verschaffen.
Es gibt bestimmte körpereigene Signale und Botschaften, die man nicht oder zumindest nur selten ignorieren sollte. Setzt man sich darüber hinweg, hat man die Chance auf Ruhm und Ehre, es besteht allerdings auch die Möglichkeit in Scham und Schande zu versinken.
Wir bewegten uns beim Bergkriterium in der grünen Stadt Marlow auf dem schmalen Grat zwischen den beiden Extremen. Neumi ging noch als erster in die letzte Rechtskurve. Er konnte seinen Vorsprung lange halten, musste jedoch am Pflasterstück dem unnachgiebigen Diktat seines Körpers folgen und die Spitze um Bobu ziehen lassen. Bobu gewann souverän, wir platzierten uns ziemlich genau in der Mitte zwischen den begehrten Podiumsplätzen und dem belächelten Ende des verbliebenen kleinen Feldes.
Bevor wir in unser Quartier, wir hatten einen idyllischen Landsitz in der Nähe gemietet, aufsuchten, ließen wir die Ereignisse der letzten 50 Minuten auf einer lockeren Ausrollrunde entlang der Rennstrecke des nächsten Tages Revue passieren. Wieder galt es den Gipfel des berüchtigten Schulenberges zu erklimmen. Gestählt vom durchwachsenen Erfolg unseres ersten Rennens, nahmen wir diese Herausforderung ohne mit der Wimper zu zucken an.
Nur mit einer kurzen Schürze bekleidet, richtete ich unser ausgefeiltes, mehrgängiges Menü am riesigen Herd der gemieteten Gutsküche an. Neumi, bereitete mir dabei die laufende Sportsendung über unbekannte Randsportarten (diesmal war es ein Spiel namens „Fußball“) verbal auf und untersetzte die Geschehnisse aus den Tiefen seines gemütlichen Sessels. Den bewunderten Torhütern nacheifernd, hechtete er sich nach dem gemeinsamen Mahl aufs Geschirr und die Spüle und ließ mir keine Chance auf eine Beteiligung.
Aufgrund des knapp bemessenen Taschengeldes hatten wir die reizenden Angebote diverser netter, üppiger Frauen abgelehnt und so kam es beim morgendlichen Wecken durch die überraschend eintreffende Kleine nicht zu unliebsamen und erklärungsbedürftigen Überraschungen. Und wieder zeigte sich der lenkende Arm des Schicksal, indem sich manche Beschränkung im Nachhinein als Vorteil erweist.
Im Anschluß an das reichhaltige Frühstück zu viert, die Kurze hatte den familientypischen Autoschlaf inzwischen beendet, besichtigten wir Männer die noch unbekannte Reststrecke des anstehenden Rennens. Völlig untypisch für die Landschaft rings um die grüne Stadt Marlow lauerten uns keinerlei Berge oder wenigsten Steigungen mehr auf. Lediglich der Wind blies heftig und das Pflaster von Alt Gutendorf versprach Abwechslung. Wie sich später noch zeigen würde, werden diese 800 Meter Pflaster unser Leben unwiderruflich verändern.
Das große Feld der Jedermänner überholte uns auf der Strecke. Verwundert sahen wir Bobu mitrollen. Was war geschehen? War er, der scheinbar Unverletzbare, er der Unbezwingbare angeschlagen vom Vortag? Wir rätselten, marterten uns die Hirne und verzweifelten, ob der nun fehlenden Herausforderung im Seniorenrennen.
Bobu gewann erwartungsgemäß und ungefährdet das Jedermannrennen.
Die Elite startete, gefolgt von den Junioren und zwei Minuten nach diesen, begaben wir uns auf die Strecke. Sekunden vor dem Startschuß schlich Bobu sich ins Feld der gut 40 Fahrer. Verschwörerisch zwinkerte er uns zu und bat vertraulich um unsere Diskretion.
Einerseits froh nun doch eine Herausforderung im Feld zu wissen, hatten wir doch Mitleid mit Bobu, da dieser sicher erschöpft, dem hohen Tempo der Senioren nicht lange folgen können würde.
Bereits auf den ersten Kilometern ging das Tempo ordentlich in die Höhe. Die Neffs, als stärkste Mannschaft, sorgten teilweise unabhängig und scheinbar gegensätzlich für Tempo. Neumi und ich wechselten uns in der Spitze ab. Wir achteten absprachegemäß strikt darauf, bei einer gehenden Gruppe dabei zu sein, versuchten uns in Tempoverschärfungen bzw. schlossen drohende Lücken. Es konnte sich trotz lang anhaltender Versuche keine Gruppe bilden. In den wenigen kritischen Momenten erfolgversprechender Ansätze sorgte Bobu wieder für den schnellen Zusammenschluß oder aber einer der Neffs wollte unbedingt vor an die Spitze zu seinem führenden Mannschaftskameraden.
Mit dem Blick auf die 800 Metern Pflaster von Alt Gutendorf zog ich kräftig am Lenker und bog als erster auf den schmalen, sandigen Randstreifen ein. Neumis Worte im Ohr, dass an dem Pflasterabschnitt einer von uns vorne fahren müsse, versuchte ich eben dies und drückte auf die Pedale.
Noch 4 Kilometer zu fahren.
Am Ende der Pflasterstrecke riskierte ich einen vorsichtigen Schulterblick, um die erstaunliche Ruhe hinter mir interpretieren zu können. Erstaunt musste ich feststellen, 50 Meter vorm Feld zu fahren.
Noch 3 Kilometer zu fahren.
Mein Blick ruhte auf dem Geschwindigkeitsmesser, die 4 sollte, mußte vorn stehen bleiben. Der Wind blies gleichmässig von vorn links. Immer noch Ruhe hinter mir. Die Oberschenkel schwellen an, die Waden zerdrücken den Flaschenhalter.
Noch 2 Kilometer zu fahren.
Der Puls trommelt inzwischen im dreifachen der Trittfrequenz in den Ohren. Die Schippe Sand vorm Ortsschild nimmt Alpendimensionen an. Der Blick wird starr und die Gedanken zerfasern in unzusammenhängende Wortfetzen. Neumi versucht an der Spitze des Feldes das Tempo allmählich zu drosseln
Noch 1 Kilometer zu fahren.
Auf der Abfahrt, die wir schon vom Bergkriterium kennen, gestatte ich mir einen zweiten Blick zurück. Der Vorsprung beträgt nun 100 Meter. Mein Herumgezögere um letzte Rechtskurve verkürzt den Abstand wieder.
Noch 300 Meter zu fahren.
Ich finde den richtigen Gang, der Geist hellt sich wieder auf, die Atmung wird freier und Hoffnung zieht ein. Als ich auf dem Pflasterstück immer noch nichts hinter mir höre wage ich ernsthaft an einen Sieg zu glauben und das Unglaubliche wird war, tausende Zuschauer toben und kreischen wie wild.
Die Ziellinie.
Der Marktplatz von Marlow (der grünen Stadt) bebt unter dem Applaus der jubelnden Radsportfans. Satte 4 Sekunden vor dem heranstürmenden Bobu bin ich im Ziel.
Von nun an überschlagen sich die Ereignisse.
Mit kraftvollen, begeisterten Schlägen zertrümmert mir Neumi das linke Schulterblatt, drei Rippen und den Lendenwirbelbereich. Erschöpft schleppe ich mich in die Arme der Geliebten. Stolz stellt die Kurze mich ihren zahllosen Freundinnen und Freunden vor. Die Zuschauer überwinden den Polizeigürtel und die meterhohen Absperrungen, es gibt Verletzte. In Ermangelung von Schreibgeräten gebe ich mit Lippenstift auf nackter Haut endlos Autogramme.
Wir kämpfen uns durch Berge von Plüschtieren und Unterwäsche zur Auszahlung der Preisgelder. Die deutsche Regierungskoalition reagiert sofort auf die freie Menge an verfügbaren Finanzmitteln und schafft die gesetzliche Grundlage zur Beteiligung der Mitarbeiter an der Ausbeutung durch ihre eigenes Unternehmen. Fortan bin auch ich in der Lage Steigerung des Unternehmensgewinnes bei gleichbleibenden bzw. sinkenden Reallöhnen durch eigene Mittel zu unterstützen.
Glücklich, zufrieden und zukünftig vermögend,
Thomas