Während Deutschland ängstlich auf seine Rentner starrt und diesen die Rente penibel vorrechnet, amüsieren sich die lizenzierten Prerentner und Masters-Fahrer ("Master", deutsch: austrainierter, willenstarker Testosteronproduzent mit belastbarer, abwechslungsreicher und spannender Lebensgeschichte, oft umlagert von hingebungsvollen, schönen Frauen, finanziell solide abgesichert, Haarfarbe wechselt ohne zusätzlichen Einsatz von Chemie) im Spreewald anlässlich der 4. Rundfahrt für Senioren der Wertungsklassen 2, 3 und 4.
Nach langem, zähem und akribischem Qualifizierungs- und Auswahlprozess, sahen sich die Picardellics im Frühling des Jahres 2008 in die einmalige Lage versetzt, eine befähigte, agile und aus Gründen der eindeutigen Erkennbarkeit weißhaarige (zumindest 60 Prozent der gemeinsam verbliebenen Haarpracht strahlen in dieser frischen Farbe wiederbelebter Natur) Mannschaft an den Start zu schicken.
Luma hatte im Vorjahr als Einzelfahrer das Terrain erkundet und lies uns Seniorenküken auf der Anfahrt nach Cottbus an seinen prägenden Erlebnissen teilhaben. Trotz mehrfacher bohrender Nachfragen, konnte oder wollte er sich in seinen detaillierten Schilderungen nicht auf einen Berg, Anstieg oder wenigstens an eine Autobahnbrücke besinnen. Dies sprach zwar positiv für Lumas jugendliche Gedächtnisstärke und unsere soliden Geographiekenntnisse des Spreewaldes, widersprach jedoch Piccos Vorlieben hinsichtlich selektiver Radrennen.
Aufregung, planlose Hektik oder gar Lampenfieber trifft man im Zuge einer Etappenfahrt selbstverständlich bei den gewieften und rennerprobten Mastersfahrern kaum noch an. Übersicht, Klarheit und Strukturiertheit bestimmen den Renn- und Lebensablauf. Dass
- der Eine, 3 Tage lang mit seinen gut gefüllten 26 Reisetaschen kämpft, sortiert, schüttet und wühlt,
- ein anderer, an der Startlinie stehend, redselig den Startort, unsere Form und das Leben im allgemeinen in Frage stellt,
- der Dritte permanent Verein, Alter, Siege, Gewicht, Radausstattung, Oberschenkel-umfang und Lungenvolumen der gemeldeten Fahrer vor sich hin murmelt und
- ein weiterer, in autistischer Schweigsamkeit versinkt und alle Gesprächsangebote verweigert,
ist lediglich der Komplexität der handelnden Personen geschuldet und keinesfalls Anzeichen von Aufregung oder ähnlichen psychischen Schwächesignalen.
10 Minuten nach dem Start des Juniorenrennens setzen wir uns also, wie bereits ausgeführt, völlig ruhig und entspannt gemeinsam mit 90 weiteren Fahrern in Bewegung. Das Tempo bewegte sich schnell in den üblichen Rennbereich und bewährte Urinstinkte übernahmen die Steuerung. Leider fiel Luma schon in der Kurve nach dem einzigen und kurzen Pflasterstück vom Feld ab und schuf sich damit rechtzeitig eine frühe Startzeit zum Zeitfahren am Samstag. Nachdem er 2 Runden lang mit kraftvollen Tritten das Hauptfeld vor sich hergetrieben hatte und seinen Mitfahrern Windschatten geboten hatte, übernahmen diese selbstlos vor der Ziellinie und ersparten Luma die letzten 10 Meter Führungsarbeit.
Derweil ging es im Feld altersgemäß gelassen zur Sache. Ruhe, Überblick und Vorausschau steuerten das Feld. Einzelne Ausreißversuche wurden gekontert, die Favoriten tasten sich vorsichtig ab. KED, Bianchi, die Wolfsburger, Neff und Pearl positionierten ihre Spitzenfahrer. Eingangs der dritten Runde wurden die Ausreißversuche ernsthafter und konsequenter gefahren. Die verirrte Wirbelschleppe eines attackierenden Nefffahrers riß mich mit in den rauen Wind der Führung. Wir führen eine ganze Weile zu dritt vorm Feld her. Eingangs der Waldstraße mit dem hubbeligen Asphalt, schlossen die Spitzenfahrer auf und forcierten das Tempo, so dass sich aus dem Wald heraus auf der Windkante eine lange Einerreihe mit gut 50 km/h bildete.
Die Spitze mit Uwe Kalz flog an uns vorbei und ging auf und davon. Einzelne Fahrer fielen raus, andere schlossen wieder auf, bis sich eine solide 5-Mann-Spitzengruppe bildete. Immer noch auf Sichtweite der Spitze, versuchte ich mit einigen anderen Fahrern wieder aufzuschließen. Der Anschluß gelang erst als einer der Grünings die Führung übernahm, den Zahnschmelz von den Zähnen beißend, konnte ich mich bei seinem furiosen Tempo im Windschatten halten und erreichte gemeinsam mit ihm die Spitze.
Hinter uns gähnende Leere.
Ziemlich breit, hätte hier für mich gern das Rennen beendet sein können. Es waren dann auch nur noch 20 Kilometer zu fahren.
20 Kilometer mit den Heroen des Seniorenradsportes in einer 7-Mann-Gruppe. Meine ursprünglichen Ziele für die Spreewaldrundfahrt (mitfahren, ankommen, berichten) waren damit nach 50 Kilometern hinfällig und mussten kurzfristig umgeplant werden. Im schnell rotierenden belgischen Kreisel vernünftig planen zu können, während man sich fühlt wie ein 16jähriger Groupie auf dem Hotelzimmer der verehrten Boygroup, ist naturgemäß etwas schwierig und so lies ich den animalischen Instinkten ihren freien Lauf. Die Kommunikation mit den Jungs beschränkte sich infolge des starken Speichelflusses, der eingeschränkten Sehfähigkeiten und des trommelnden Pulses eh auf ein Mindestmaß und ich versuchte mitzufahren und mitzuführen.
Picco und Neumi haben auf der Windkante mehr Pech gehabt und mussten den einen oder anderen Fahrer umkurven. Die Spitze war weg und das Feld zerissen. Picco wagte den Sprung nach vorn und erreichte die zweite Gruppe. Neumis Oberschenkel entwickelten währen der Verfolgung plötzlich ein Eigenleben und brachten ihre Vorstellungen zur Geschwindigkeit für die letzte Runde deutlich zum Ausdruck. Bis Neumi wieder Gewalt über seinen Körper hatte, war Picco weg und Neumi musste mit 6 weiteren Fahrern hinterhertrödeln.
Vorn erging es mir inzwischen schlecht. Wohl wissend, dass ein Abreißen mit jahrelangem Hohn und Spott honoriert würde, versuchte ich auf immer dünner werdendem Zahnschmelz beißend, dranzubleiben. Im harten Überlebenskampf musste ich einige Führungen auslassen und hing den anderen 6 Fahrern nur noch hinten drauf. Eine ausgeprägte jugendliche Regenerationsfähigkeit erlaubte immer wieder Führungsarbeit, wurde jedoch von plötzlich einbrechenden Alterungsschüben unterbrochen.
3 Kilometer vorm Ziel spürten wir den heißen Atem der Verfolgergruppe um Picco im Nacken, jetzt fuhren alle 7 Fahrer ohne einen weiteren Gedanken an die Zukunft. Zungen verknoteten sich in Naben, Oberschenkel schwollen auf Ballongröße an und die ersten Lungen kollabierten. Die letzten 500 durfte ich, aufgrund meiner Führungsschwäche unterwegs, im Wind fahren und schaute mir aus der Position, glücklich überhaupt angekommen und noch am Leben zu sein, den fulminanten Sprint der Renngottsenioren an.
Hinter der Ziellinie war dann Picco auch gleich neben mir und wollte seine zahlreichen Erlebnisse mit mir austauschen. Sprach- und Hörzentrum wurden jedoch noch nicht wieder durchblutet und so gingen mir die ersten 30 Minuten von Piccos Erzählung verloren. Als ich dann endlich wieder reden konnte, waren jedoch noch nicht alle Erinnerungen zu den letzten 40 Minuten abrufbar und so blieb das Gespräch weiterhin einseitig.
Entsprechend unseren Platzierungen verteilte sich unsere Starts zum Zeitfahren am nächsten Morgen auf 90 Minuten.
Luma, der sich eine frühe Startzeit erkämpft hatte, suchte 40 Minuten und 20 Kilometer vom Startort entfernt verzweifelt seinen Brustgurt, schwang sich aus Rad und wir genossen die einziehende Ruhe sowie das Ende des nächtlichen Regens.
Im trockenen, warmen Bus sitzend, holten wir Luma schon bald wieder ein und nahmen ihn in den Windschatten. 7 Minuten vor seinem Start stand er warmgefahren, ruhig und zuversichtlich am Start. Luma rückte sich den Zeitfahrhelm zurecht und lies sein Scheibenrad kernig über die 11 Kilometer bollern.
Neumi lernte inzwischen die Unterschiede zwischen 31,8 Millimeter und 26,0 Millimeter kennen und verzichtete aus dieser neuen Erfahrung heraus konsequent auf seinen Zeitfahraufsatz.
Es hat schon eine gewisse Größe bei einer Rundfahrt mit Teilnehmern, die ihr Einkommen und ihre Liebe in Radsport und zugehörige Technik investieren, auf einen Vorteil den die Technik bietet zu verzichten. Neumi bezahlte diesen Großmut mit fast einer Minute Rückstand auf die Zeit seiner technisch besser bzw. normal ausgestatteten Mannschaftskameraden. Ob und inwieweit hier die freie Verfügbarkeit auf sein Haushalteinkommen eine Rolle spielt, und ob aus diesem materialtechnischen Desaster geschlussfolgert werden kann, dass Neumi zu wenig Taschengeld bekommt, soll und kann hier nicht erörtert werden. Allerdings scheint der Kontrollverlust Neumis (wir erinnern uns, am Vortag verlor er kurzzeitig die Herrschaft über im Radrennen wesentliche Körperfunktionen und hier erscheint es dem unbedarften Beobachter so, als gebe es für ihn unkontrollierbare Einflüsse auf Materialauswahl, -anzahl und -qualität) symptomatisch zu sein und wir sollten hier unsere Unterstützung planen und anbieten....
Picco, zwar frisch verliebt, aber noch immer Herr über seine Räder und deren Ausstattung, konnte durch den gezielten Einsatz brauchbaren Materials Lumas Vorsprung klein halten. Wie die Geschichte wenig später zeigen wird, wurde ihm lediglich seine ausgeprägte Kommunikationsfreude zum Verhängnis.
Letztes Jahr hatte ich in Jena spüren müssen, welche Gefahren von einem nagelneuen, schönen Rad ausgehen können, wenn man zum ersten Mal mit diesem fährt:
wie auch im Leben, in den schönen Stunden mit einer begehrenswerten Frau, man(n) vergisst Raum und vor allem Zeit....
In der Erinnerung an Holgis und Neumis süffisantes Grinsen in Jena nach meinem katastrophalen Zeitfahrergebnis, beugte ich mich tief über den Lenker und klammerte außer dem Schmerz alle weiteren Empfindungen, die das Leben eines Mannes so schön machen, aus.
Kurz nach dem Start mit einem brüllenden Schmerz in den Oberschenkeln, begegnete Picco mir im Wald und beging hier seinen weitreichenden Fehler: er fing ein Gespräch an.
Sein ausuferndes „Hallo“ kostet ihn die halbe Sekunde, die von nun an die starken Fahrer von den deutlich weniger starken Fahrern des Masterteams trennt. Bis auf diese kurze Episode verlief das Zeitfahren, den Gepflogenheiten einer Sportart von gesellschaftsfernen Einzelgängersportarten folgend, ereignislos. Die Fahrt bis zur Wendestelle war durch den gleichmässigen Gegenwind eher lästig, während die Rückfahrt doch schon mehr an Radfahren und die Freuden schnellen Gleitens erinnerte.
Piccos Schwester umsorgte uns nach dem Zeitfahren und vor dem nachmittäglichen Kriterium mit Speis und Trank. Es blieb uns noch genügend Zeit, die Räder wieder in vorzeigbaren Zustand zu versetzen und uns auf der Rennstrecke warm zu fahren.
Das bevorstehende Kriterium weckte in uns längst vergessen geglaubte Ängste und Befürchtungen. Ängste vor geschnittenen Kurven, drängelnden Mitfahrern, hakenschlagenden Hektikern, blutenden Sturzwunden und zersplitterndem Carbon.
Das Rennen ums Waldhotel war das genaue Gegenteil unsere Befürchtungen. Im Seniorenfeld besteht offensichtlich ein ausreichendes Maß an kritischer Selbsteinschätzung, an einem wachen Bewusstsein bezüglich eigenen Fähigkeiten und der reellen Kenntnis der möglichen Geschwindigkeit. Und so waren die 30 Runden auch nach einer knappen Stunde absolviert. Sehr zu Neumis Leidwesen gab es kriteriumsuntypisch nur in der 15. Runde eine Zwischenwertung. In einer der ersten Runden blockierte ein Holzlaster kurz die Strecke, doch selbst diese Einengung wurde vom Feld gelassen umfahren. Gegen Ende nahm die Konzentration etwas ab und die Anzahl der Bremsmanöver etwas zu, dies lies sich aber auf einem Platz im vorderen Feld problemlos kompensieren.
Nach der 3. Etappe hatten wir 2 Picardellics unter den ersten 15 Fahrern der Gesamtwertung.
Neumi, durch sein beschränktes Zeitfahrmaterial aussichtslos auf einem hinteren Platz liegend, stellte sich auf der 4. Etappe aufopferungsvoll in den Dienst der besser platzierten Mannschaftskameraden. Die letzte Etappe führte auf einem 4 mal zu absolvierenden Rundkurs über gut 90 Kilometer durch die abwechslungsreiche, flache Landschaft um Drachhausen.
Der Start und die ersten beiden Runden verliefen diesmal deutlich nervöser als die Rennen der letzten beiden Tage. Jeder wollte seine Platzierung verteidigen oder verbessern. Die Chancen für Ausreißer waren in dem angespannten Feld minimal. Selbst energisch durchgezogene Versuche in der dritten und vierten Runde konnten das Feld nicht zerreissen. So blieb den interessierten Fahrern als einzige Chance, die Platzierungen verbessern zu wollen, die Zeitgutschriften in den Wertungssprints zu holen.
Die Zeitgutschriften gingen so weg, dass unsere Platzierungen ungefährdet erhalten blieben. Neumi schaute sich die Sprints in Ruhe an und konzentrierte seine Kräfte auf den Schlußsprint. 4 Kilometer vorm Ziel lauerte ihm leider ein Schlagloch auf. Im Gerangel um die Positionen blieb zu wenig Platz und Zeit um auszuweichen und so krachte sein Vorderrad in das Loch, der Schlauch wurde von den nachrückenden 95 Kilo (80 Kilo Neumi und 15 Kilo Rad) bei gefühlten 57 km/h zermalmt und Neumi war aus dem Rennen raus.
Zu dem Zeitpunkt saß Luma schon im Schlußfahrzeug, nachdem er sich eine Speiche seines Vorderrades zerrissen hatte. 3 Runden hatte er sich tapfer an der Spitze und zeitweise sogar vor dieser (überschießende Kraft, gespart am ersten Tag) gehalten, um dann für Sekunden unaufmerksam an den wild peitschenden Schwanz des Feldes zu gelangen und dort unter starken Materialverlusten leidend, aufzugeben.
Und so kamen lediglich zwei der ehemals 4 gestarteten Picardellics am letzten Tag erschöpft und zufrieden im Ziel an.
Erst der Blick auf die Ergebnislisten lies unsere Freude und Euphorie ersterben: Picco stand zwar noch auf Platz 13, währen ich ganz und gar fehlte. Nun spürte ich jedoch mit einem schnellen Griff an die Schenkel, dass ich gefahren sein musste, die Erinnerungen waren zudem diesmal voll umfänglich und lückenlos abrufbar und auf intensive Nachfrage bestätigten Picco und Neumi, mich im Feld gesehen zu haben.
Der Einspruch beim WAV hellte die verworrene Sache recht schnell auf. Ein Juniorenfahrer war ausgeschieden. Dies ist an sich kein Problem. Allerdings hatte der junge Dachs ebenfalls die Nummer 51 und in der Hektik des Renngeschehens wurde der ausgeschiedene Fahrer in der falschen Liste geführt. Erschwerend kam zudem hinzu, dass ich die Ziellinie dicht vorm Zielwagen überquerte. Die Sonne reflektierte stark auf meinen Startnummern und die Rahmennummer wurde durch mächtige Schenkel verdeckt. Damit haben die Auswerter mich nicht zuordnen können, und die durchgeführte Proberechnung „Starter abzüglich ausgeschiedene Fahrer“ führte zur richtigen Anzahl der auf der Ergebnisliste registrierten Fahrer. So ging der eine Fahrer unter ..... und weinte bitterlich auf der Heimfahrt.
Drei Tage, zwei Mails und einen Anruf später, kam die Nachricht von Landesverband, dass das Ergebnis selbstverständlich korrigiert wird und Freude macht sich breit.
Freude macht sich breit über die Platzierungen, aber auch Freude auf die nächsten Rennen mit Übernachtung, die gemeinsamen Nächte, wenn Neumis EMP uns gleichmässig in den Schlaf piepst, Luma zart schnarcht und seine Füße gegen Morgen vertrauensvoll unter meine Decke schiebt,
Thomas
Luma hatte im Vorjahr als Einzelfahrer das Terrain erkundet und lies uns Seniorenküken auf der Anfahrt nach Cottbus an seinen prägenden Erlebnissen teilhaben. Trotz mehrfacher bohrender Nachfragen, konnte oder wollte er sich in seinen detaillierten Schilderungen nicht auf einen Berg, Anstieg oder wenigstens an eine Autobahnbrücke besinnen. Dies sprach zwar positiv für Lumas jugendliche Gedächtnisstärke und unsere soliden Geographiekenntnisse des Spreewaldes, widersprach jedoch Piccos Vorlieben hinsichtlich selektiver Radrennen.
Aufregung, planlose Hektik oder gar Lampenfieber trifft man im Zuge einer Etappenfahrt selbstverständlich bei den gewieften und rennerprobten Mastersfahrern kaum noch an. Übersicht, Klarheit und Strukturiertheit bestimmen den Renn- und Lebensablauf. Dass
- der Eine, 3 Tage lang mit seinen gut gefüllten 26 Reisetaschen kämpft, sortiert, schüttet und wühlt,
- ein anderer, an der Startlinie stehend, redselig den Startort, unsere Form und das Leben im allgemeinen in Frage stellt,
- der Dritte permanent Verein, Alter, Siege, Gewicht, Radausstattung, Oberschenkel-umfang und Lungenvolumen der gemeldeten Fahrer vor sich hin murmelt und
- ein weiterer, in autistischer Schweigsamkeit versinkt und alle Gesprächsangebote verweigert,
ist lediglich der Komplexität der handelnden Personen geschuldet und keinesfalls Anzeichen von Aufregung oder ähnlichen psychischen Schwächesignalen.
10 Minuten nach dem Start des Juniorenrennens setzen wir uns also, wie bereits ausgeführt, völlig ruhig und entspannt gemeinsam mit 90 weiteren Fahrern in Bewegung. Das Tempo bewegte sich schnell in den üblichen Rennbereich und bewährte Urinstinkte übernahmen die Steuerung. Leider fiel Luma schon in der Kurve nach dem einzigen und kurzen Pflasterstück vom Feld ab und schuf sich damit rechtzeitig eine frühe Startzeit zum Zeitfahren am Samstag. Nachdem er 2 Runden lang mit kraftvollen Tritten das Hauptfeld vor sich hergetrieben hatte und seinen Mitfahrern Windschatten geboten hatte, übernahmen diese selbstlos vor der Ziellinie und ersparten Luma die letzten 10 Meter Führungsarbeit.
Derweil ging es im Feld altersgemäß gelassen zur Sache. Ruhe, Überblick und Vorausschau steuerten das Feld. Einzelne Ausreißversuche wurden gekontert, die Favoriten tasten sich vorsichtig ab. KED, Bianchi, die Wolfsburger, Neff und Pearl positionierten ihre Spitzenfahrer. Eingangs der dritten Runde wurden die Ausreißversuche ernsthafter und konsequenter gefahren. Die verirrte Wirbelschleppe eines attackierenden Nefffahrers riß mich mit in den rauen Wind der Führung. Wir führen eine ganze Weile zu dritt vorm Feld her. Eingangs der Waldstraße mit dem hubbeligen Asphalt, schlossen die Spitzenfahrer auf und forcierten das Tempo, so dass sich aus dem Wald heraus auf der Windkante eine lange Einerreihe mit gut 50 km/h bildete.
Die Spitze mit Uwe Kalz flog an uns vorbei und ging auf und davon. Einzelne Fahrer fielen raus, andere schlossen wieder auf, bis sich eine solide 5-Mann-Spitzengruppe bildete. Immer noch auf Sichtweite der Spitze, versuchte ich mit einigen anderen Fahrern wieder aufzuschließen. Der Anschluß gelang erst als einer der Grünings die Führung übernahm, den Zahnschmelz von den Zähnen beißend, konnte ich mich bei seinem furiosen Tempo im Windschatten halten und erreichte gemeinsam mit ihm die Spitze.
Hinter uns gähnende Leere.
Ziemlich breit, hätte hier für mich gern das Rennen beendet sein können. Es waren dann auch nur noch 20 Kilometer zu fahren.
20 Kilometer mit den Heroen des Seniorenradsportes in einer 7-Mann-Gruppe. Meine ursprünglichen Ziele für die Spreewaldrundfahrt (mitfahren, ankommen, berichten) waren damit nach 50 Kilometern hinfällig und mussten kurzfristig umgeplant werden. Im schnell rotierenden belgischen Kreisel vernünftig planen zu können, während man sich fühlt wie ein 16jähriger Groupie auf dem Hotelzimmer der verehrten Boygroup, ist naturgemäß etwas schwierig und so lies ich den animalischen Instinkten ihren freien Lauf. Die Kommunikation mit den Jungs beschränkte sich infolge des starken Speichelflusses, der eingeschränkten Sehfähigkeiten und des trommelnden Pulses eh auf ein Mindestmaß und ich versuchte mitzufahren und mitzuführen.
Picco und Neumi haben auf der Windkante mehr Pech gehabt und mussten den einen oder anderen Fahrer umkurven. Die Spitze war weg und das Feld zerissen. Picco wagte den Sprung nach vorn und erreichte die zweite Gruppe. Neumis Oberschenkel entwickelten währen der Verfolgung plötzlich ein Eigenleben und brachten ihre Vorstellungen zur Geschwindigkeit für die letzte Runde deutlich zum Ausdruck. Bis Neumi wieder Gewalt über seinen Körper hatte, war Picco weg und Neumi musste mit 6 weiteren Fahrern hinterhertrödeln.
Vorn erging es mir inzwischen schlecht. Wohl wissend, dass ein Abreißen mit jahrelangem Hohn und Spott honoriert würde, versuchte ich auf immer dünner werdendem Zahnschmelz beißend, dranzubleiben. Im harten Überlebenskampf musste ich einige Führungen auslassen und hing den anderen 6 Fahrern nur noch hinten drauf. Eine ausgeprägte jugendliche Regenerationsfähigkeit erlaubte immer wieder Führungsarbeit, wurde jedoch von plötzlich einbrechenden Alterungsschüben unterbrochen.
3 Kilometer vorm Ziel spürten wir den heißen Atem der Verfolgergruppe um Picco im Nacken, jetzt fuhren alle 7 Fahrer ohne einen weiteren Gedanken an die Zukunft. Zungen verknoteten sich in Naben, Oberschenkel schwollen auf Ballongröße an und die ersten Lungen kollabierten. Die letzten 500 durfte ich, aufgrund meiner Führungsschwäche unterwegs, im Wind fahren und schaute mir aus der Position, glücklich überhaupt angekommen und noch am Leben zu sein, den fulminanten Sprint der Renngottsenioren an.
Hinter der Ziellinie war dann Picco auch gleich neben mir und wollte seine zahlreichen Erlebnisse mit mir austauschen. Sprach- und Hörzentrum wurden jedoch noch nicht wieder durchblutet und so gingen mir die ersten 30 Minuten von Piccos Erzählung verloren. Als ich dann endlich wieder reden konnte, waren jedoch noch nicht alle Erinnerungen zu den letzten 40 Minuten abrufbar und so blieb das Gespräch weiterhin einseitig.
Entsprechend unseren Platzierungen verteilte sich unsere Starts zum Zeitfahren am nächsten Morgen auf 90 Minuten.
Luma, der sich eine frühe Startzeit erkämpft hatte, suchte 40 Minuten und 20 Kilometer vom Startort entfernt verzweifelt seinen Brustgurt, schwang sich aus Rad und wir genossen die einziehende Ruhe sowie das Ende des nächtlichen Regens.
Im trockenen, warmen Bus sitzend, holten wir Luma schon bald wieder ein und nahmen ihn in den Windschatten. 7 Minuten vor seinem Start stand er warmgefahren, ruhig und zuversichtlich am Start. Luma rückte sich den Zeitfahrhelm zurecht und lies sein Scheibenrad kernig über die 11 Kilometer bollern.
Neumi lernte inzwischen die Unterschiede zwischen 31,8 Millimeter und 26,0 Millimeter kennen und verzichtete aus dieser neuen Erfahrung heraus konsequent auf seinen Zeitfahraufsatz.
Es hat schon eine gewisse Größe bei einer Rundfahrt mit Teilnehmern, die ihr Einkommen und ihre Liebe in Radsport und zugehörige Technik investieren, auf einen Vorteil den die Technik bietet zu verzichten. Neumi bezahlte diesen Großmut mit fast einer Minute Rückstand auf die Zeit seiner technisch besser bzw. normal ausgestatteten Mannschaftskameraden. Ob und inwieweit hier die freie Verfügbarkeit auf sein Haushalteinkommen eine Rolle spielt, und ob aus diesem materialtechnischen Desaster geschlussfolgert werden kann, dass Neumi zu wenig Taschengeld bekommt, soll und kann hier nicht erörtert werden. Allerdings scheint der Kontrollverlust Neumis (wir erinnern uns, am Vortag verlor er kurzzeitig die Herrschaft über im Radrennen wesentliche Körperfunktionen und hier erscheint es dem unbedarften Beobachter so, als gebe es für ihn unkontrollierbare Einflüsse auf Materialauswahl, -anzahl und -qualität) symptomatisch zu sein und wir sollten hier unsere Unterstützung planen und anbieten....
Picco, zwar frisch verliebt, aber noch immer Herr über seine Räder und deren Ausstattung, konnte durch den gezielten Einsatz brauchbaren Materials Lumas Vorsprung klein halten. Wie die Geschichte wenig später zeigen wird, wurde ihm lediglich seine ausgeprägte Kommunikationsfreude zum Verhängnis.
Letztes Jahr hatte ich in Jena spüren müssen, welche Gefahren von einem nagelneuen, schönen Rad ausgehen können, wenn man zum ersten Mal mit diesem fährt:
wie auch im Leben, in den schönen Stunden mit einer begehrenswerten Frau, man(n) vergisst Raum und vor allem Zeit....
In der Erinnerung an Holgis und Neumis süffisantes Grinsen in Jena nach meinem katastrophalen Zeitfahrergebnis, beugte ich mich tief über den Lenker und klammerte außer dem Schmerz alle weiteren Empfindungen, die das Leben eines Mannes so schön machen, aus.
Kurz nach dem Start mit einem brüllenden Schmerz in den Oberschenkeln, begegnete Picco mir im Wald und beging hier seinen weitreichenden Fehler: er fing ein Gespräch an.
Sein ausuferndes „Hallo“ kostet ihn die halbe Sekunde, die von nun an die starken Fahrer von den deutlich weniger starken Fahrern des Masterteams trennt. Bis auf diese kurze Episode verlief das Zeitfahren, den Gepflogenheiten einer Sportart von gesellschaftsfernen Einzelgängersportarten folgend, ereignislos. Die Fahrt bis zur Wendestelle war durch den gleichmässigen Gegenwind eher lästig, während die Rückfahrt doch schon mehr an Radfahren und die Freuden schnellen Gleitens erinnerte.
Piccos Schwester umsorgte uns nach dem Zeitfahren und vor dem nachmittäglichen Kriterium mit Speis und Trank. Es blieb uns noch genügend Zeit, die Räder wieder in vorzeigbaren Zustand zu versetzen und uns auf der Rennstrecke warm zu fahren.
Das bevorstehende Kriterium weckte in uns längst vergessen geglaubte Ängste und Befürchtungen. Ängste vor geschnittenen Kurven, drängelnden Mitfahrern, hakenschlagenden Hektikern, blutenden Sturzwunden und zersplitterndem Carbon.
Das Rennen ums Waldhotel war das genaue Gegenteil unsere Befürchtungen. Im Seniorenfeld besteht offensichtlich ein ausreichendes Maß an kritischer Selbsteinschätzung, an einem wachen Bewusstsein bezüglich eigenen Fähigkeiten und der reellen Kenntnis der möglichen Geschwindigkeit. Und so waren die 30 Runden auch nach einer knappen Stunde absolviert. Sehr zu Neumis Leidwesen gab es kriteriumsuntypisch nur in der 15. Runde eine Zwischenwertung. In einer der ersten Runden blockierte ein Holzlaster kurz die Strecke, doch selbst diese Einengung wurde vom Feld gelassen umfahren. Gegen Ende nahm die Konzentration etwas ab und die Anzahl der Bremsmanöver etwas zu, dies lies sich aber auf einem Platz im vorderen Feld problemlos kompensieren.
Nach der 3. Etappe hatten wir 2 Picardellics unter den ersten 15 Fahrern der Gesamtwertung.
Neumi, durch sein beschränktes Zeitfahrmaterial aussichtslos auf einem hinteren Platz liegend, stellte sich auf der 4. Etappe aufopferungsvoll in den Dienst der besser platzierten Mannschaftskameraden. Die letzte Etappe führte auf einem 4 mal zu absolvierenden Rundkurs über gut 90 Kilometer durch die abwechslungsreiche, flache Landschaft um Drachhausen.
Der Start und die ersten beiden Runden verliefen diesmal deutlich nervöser als die Rennen der letzten beiden Tage. Jeder wollte seine Platzierung verteidigen oder verbessern. Die Chancen für Ausreißer waren in dem angespannten Feld minimal. Selbst energisch durchgezogene Versuche in der dritten und vierten Runde konnten das Feld nicht zerreissen. So blieb den interessierten Fahrern als einzige Chance, die Platzierungen verbessern zu wollen, die Zeitgutschriften in den Wertungssprints zu holen.
Die Zeitgutschriften gingen so weg, dass unsere Platzierungen ungefährdet erhalten blieben. Neumi schaute sich die Sprints in Ruhe an und konzentrierte seine Kräfte auf den Schlußsprint. 4 Kilometer vorm Ziel lauerte ihm leider ein Schlagloch auf. Im Gerangel um die Positionen blieb zu wenig Platz und Zeit um auszuweichen und so krachte sein Vorderrad in das Loch, der Schlauch wurde von den nachrückenden 95 Kilo (80 Kilo Neumi und 15 Kilo Rad) bei gefühlten 57 km/h zermalmt und Neumi war aus dem Rennen raus.
Zu dem Zeitpunkt saß Luma schon im Schlußfahrzeug, nachdem er sich eine Speiche seines Vorderrades zerrissen hatte. 3 Runden hatte er sich tapfer an der Spitze und zeitweise sogar vor dieser (überschießende Kraft, gespart am ersten Tag) gehalten, um dann für Sekunden unaufmerksam an den wild peitschenden Schwanz des Feldes zu gelangen und dort unter starken Materialverlusten leidend, aufzugeben.
Und so kamen lediglich zwei der ehemals 4 gestarteten Picardellics am letzten Tag erschöpft und zufrieden im Ziel an.
Erst der Blick auf die Ergebnislisten lies unsere Freude und Euphorie ersterben: Picco stand zwar noch auf Platz 13, währen ich ganz und gar fehlte. Nun spürte ich jedoch mit einem schnellen Griff an die Schenkel, dass ich gefahren sein musste, die Erinnerungen waren zudem diesmal voll umfänglich und lückenlos abrufbar und auf intensive Nachfrage bestätigten Picco und Neumi, mich im Feld gesehen zu haben.
Der Einspruch beim WAV hellte die verworrene Sache recht schnell auf. Ein Juniorenfahrer war ausgeschieden. Dies ist an sich kein Problem. Allerdings hatte der junge Dachs ebenfalls die Nummer 51 und in der Hektik des Renngeschehens wurde der ausgeschiedene Fahrer in der falschen Liste geführt. Erschwerend kam zudem hinzu, dass ich die Ziellinie dicht vorm Zielwagen überquerte. Die Sonne reflektierte stark auf meinen Startnummern und die Rahmennummer wurde durch mächtige Schenkel verdeckt. Damit haben die Auswerter mich nicht zuordnen können, und die durchgeführte Proberechnung „Starter abzüglich ausgeschiedene Fahrer“ führte zur richtigen Anzahl der auf der Ergebnisliste registrierten Fahrer. So ging der eine Fahrer unter ..... und weinte bitterlich auf der Heimfahrt.
Drei Tage, zwei Mails und einen Anruf später, kam die Nachricht von Landesverband, dass das Ergebnis selbstverständlich korrigiert wird und Freude macht sich breit.
Freude macht sich breit über die Platzierungen, aber auch Freude auf die nächsten Rennen mit Übernachtung, die gemeinsamen Nächte, wenn Neumis EMP uns gleichmässig in den Schlaf piepst, Luma zart schnarcht und seine Füße gegen Morgen vertrauensvoll unter meine Decke schiebt,
Thomas