Tach allerseits,
es ist still geworden im Picardellics-Forum. Die Blätter fallen, es ist schon ordentlich kalt, vor allem morgens, und der Wind weht um die Ecken, zumindest weit nördlich des Äquators. Das sind alles Bedingungen, die nicht unbedingt zu den besten Freunden des Radfahrers zählen, mal abgesehen von Jonny und anderen Regen- und Kältefans im Verein. Hier am anderen Ende der Welt, von wo diese kleine Geschichte stammt, fallen keine Blätter und es ist auch nicht wirklich kalt, aber der Wind ist aufgrund der Nähe zum unendlichen großen und derzeit leider grauen Ozean ein regelmäßiger Trainingspartner der Radfahrer. Wer mehr wissen möchte, möge sicherheitshalber noch einmal eine Notdurft verrichten und sich ausreichend Proviant für die abenteurliche Reise durch die folgenden (vielen) Zeilen zurechtlegen.
Bekanntermaßen haben sich meine Kontributionen im Forum in dieser, in der nördlichen Hemisphäre zu Ende gehenden, Radsportsaison 2006, stark in Grenzen gehalten. Die Hauptursache dafür war ein buchstäblich einschneidendes Erlebnis in meinem Leben vor 17 Wochen. Jener Tag, es war der 9. Juli, begann für mich mit ziemlich viel Couch- Athletik. Nachdem Sergej Gonchar Floyd Landis im ersten Tourzeitfahren eine 1 min abgenommen hatte, gewann Portugal im klitzekleinen Finale der diesjährigen Fußball-WM die unter Sportlern sehr beliebte Holzmedaille gegen irgendeine andere Mannschaft, an die ich mich nicht mehr erinnere. Getragen von der Inspiration durch Gonchars Zeitfahrdarbietung jagte ich der „Sunday-morning-bunch“ des Illawarra Cycle Club hinterher. Allerdings sollte ich diese nie erreichen …
Alles weitere ist Geschichte, welche ich jetzt hier nicht weiter auswalzen möchte. Konsequenz war eine 3-monatige totale Radabstinez und zu viele dieser Abstinenzen können einfach nicht gut sein . Seit einem Monat bin ich nun wieder zurück im Sattel, zunächst mit dem Bergfahrrad und nach meiner Rückkehr aus dem wunderschönen, europäischen Frühherbst auch wieder auf dem Rad mit den schmalen Reifen. Ich hab es so vermisst, auch wenn es ganz schon wehtut, die zusätzlich eingelagerten Winterreserven auf meinen Hausberg, den Mt Keira, hochzuwuchten.
Bevor ich hier nun aber zu sehr in den Verantwortungsbereich unseres akkreditierten Vereinsschriftstellers Rudi eingreife, komme ich mal lieber zum eigentlichen Thema, nämlich zu einem kleinen „Renn“-Bericht über meine Teilnahme am 25. MS Sydney to the Gong Bike Ride. Es war eigentlich kein Rennen, sondern eine Benefiz-Radsportveranstaltung zur Unterstützung von Multiple Sklerose-Betroffenen. Ich hatte schon im vergangenen Jahr im Netz darüber gelesen und dachte mir nun, da könnte man ja zur Unterstützung einer guten Sache einfach mal mitmachen. In der Annahme, dass das Sturzrisiko bei einer solchen Veranstaltung – zumindest im vorderen Bereich – im Gegensatz zu richtigen Rennen nicht so hoch sein sollte, meldete ich mich für die (längere) 90 km Strecke an. In den verbleibenden ca. 2 Wochen versuchte ich wenigstens ein bisschen zu trainieren, um nicht völlig unvorbereitet auf die durchaus hügelige und vor allem windanfällige Strecke zu gehen. Leider war das Wetter besonders an den Wochenenden immer schlecht. Ja, entgegen allen Vorurteilen und Berichten über jahrelange Dürre (es soll sich um ein 1000-jähriges Ereignis handeln!) regnet es jetzt hier sogar gelegentlich, zumindest an der Küste. Zudem hatte ich viel Arbeit und bin somit neben meiner täglichen Fahrt zur Uni (2x 3.9 km) nicht über zwei jeweils knapp zweistündige Trainingstouren hinausgekommen. Ich war zwar als Ausgleich einige Male schwimmen, aber das ist natürlich kein spezifisches Radtraining. Egal, mein Radkumpel Gav wollte ursprünglich mitkommen, obwohl er wie ich etwas aus dem Training gekommen war, aber irgendwie ruderte er mehr und mehr zurück und am Vortag des Ereignisses wollte er dann mir nur noch entgegengefahren kommen und mich irgendwo treffen. So plante ich meine Anreise eben alleine. Klassische, „kurz-vor-Ultimo-Vorbereitungen“ am Vorabend verkürzten die noch verfügbare Restschlafzeit rapide. Letztendlich blieben mir wegen noch dazukommender Einschlafstörungen ganze 1.5 h, denn ich musste ja schon 3:15 aufstehen, um mit dem ersten Zug um kurz nach 4:00 nach Sydney zu fahren.
Die mordendliche Begutachtung der Wetterlage (12°C und leichter Regen) wirkte sich dann auch nicht gerade motivierend aus und ich entschied mich für die Regenjacke, die ja aufgrund des Packvolumens nicht so ideal für die Trikottasche ist. Mit recht vielen anderen schläfrigen Radfahrern ging’s also auf eine angemessen klimatisierte (d. h. kühle) Zugfahrt und ich bereute nicht eine Jacke angehabt zu haben. Als dann einer der Radfahrer im Zug eine gelbe Luxus-Radfahrerfrucht auspackte, fiel mir ein, das ich nicht einmal einen Riegel eingepackt hatte. Mir blieben also die Energie einer Tasse Milo vom Morgen und die ca. 25 g Fruchtzucker aus dem verdünnten Apfelsaft in einer meiner Trinkflaschen für die 90 km. Aber dann dachte ich an Tellerjans Aussage, dass man mit den Reserven eines Normalsportlers theoretisch zwei Dutzend (oder so) Marathons laufen könnte. Mit meinen derzeitigen Reserven wäre ich dann wahrscheinlich in der Lage, von Sydney nach Perth (ca. 4000 km) einen RAOZ (Race Across Australia) ohne zusätzliche Nahrungsaufnahme zu bestreiten . Aber ich schweife vom Thema ab.
Ich machte mir also keine Sorgen, rollte gegen 6:00 an den Start, wo von den angemeldeten mehr als 10000 Startern (neuer Rekord) glücklicherweise noch nicht viele vorort waren. Der Start erfolgte gestaffelt nach voraussichtlicher Fahrzeit über mehrere Stunden verteilt und ich hätte eigentlich auch noch 30 min Zeit bis zu meiner Startzeit gehabt. Es schien aber niemanden zu interessieren, wer da wann losfährt, so dass ich mir meinen Startstempel geben ließ und mich in das noch relativ kleine Feld einordnete. Und der Zufall wollte es, dass doch tatsächlich noch 4 weitere, mir bekannte Fahrer des Illawarra Cycle Club am Start standen. Damit war alles natürlich auf einen Schlag viel schöner. 6:15 ging’s endlich los bei bewölktem Himmel und heftigem Südwind. Es kam aufgrund des breitgefächerten Leistungsniveaus gleich zur Gruppenbildung. Mein Puls stieg unverzüglich in Bereiche meiner Körpergröße (in cm) und darüber. Nach dem ersten (!) Stop an einer Ampel - es war wie gesagt kein Rennen und die Straßen waren dementsprechend nicht gesperrt, außer das auf den ersten Kilometern die ganz linke Spur für uns reserviert war - legte sich einer von uns nach einer Reifenberührung gleich mal hin und hatte dann Schaltungsprobleme, so dass wir den Kontakt zur ersten Gruppe verloren. Unter Auferbietung fast aller Kräfte versuchten wir dann mit einem australischen 8-Mann-Kreisel wieder heranzukommen, was zunächst durch Murphy-gesteuerte Ampeln und dann vollends durch einen Platten eines Gruppenmitgliedes verhindert wurde. In den paar Minuten der Reparatur kamen dann mehrere, 10- bis 20-Mann starke Gruppen an uns vorbei, die wir später aber, in Einzelteile zerlegt, weitestgehend wiedersehen sollten, denn es waren ja noch 70 km bis Wollongong. Nach der mir nicht völlig unwillkommenen Erholungspause ging’s weiter mit Vollgas gegen den Wind, und der kann ganz schön wehtun, vor allem auf den langgezogenen, exponierten Anstiegen des Princess Highway und wenn man größere Mengen an, aus Radsportgesichtspunkten, weitestgehend nutzlosem Körpergewebe mitführt. Der Kreisel war zu einer 2-Mann-Führung verkommen und ich hatte, wie auch andere in der Gruppe, selbst im Windschatten mit 180-er Puls zu kämpfen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Positiver Nebeneffekt dieser Bolzerei war aber, dass unsere Gruppe nun viele abgesprengte Fahrer aus den oben erwähnten Gruppen fliegend wieder einholte.
Nach ca. 40 km gegen den Wind gab es eine nette, leider nasse Abfahrt hinunter in den wunderschönen Royal National Park (den ältesten des Landes). Wenigstens schützten jetzt die Bäume vor dem Wind, aber Mr T., welcher bisher die Hauptarbeit im Wind geleistet hatte, zerrte schon wieder die Berge hoch, und ich fragte mich unter welcher Droge Einfluss’ er wohl stand. Ich konnte mich unter Freisetzung aller nicht vorhandenen, vor allem physischen Kräfte am Hinterrad meines Vordermanns halten, aber hinten fiel dann einer heraus, sodass das Tempo etwas gedrosselt wurde. Am Ende des Nationalparks erreichten wir am Bald Hill mit ca. 250 m den höchsten Punkt des Tages und normalerweise hat man von hier einen fantastischen Ausblick nach Süden auf die gesamte Illawarra-Region. Heute war nur ein Einheitsgrau zu sehen und der mächtige Ozean warf wütend surferfreundliche Wellen an den Strand. Erwartungsgemäß gesellte sich auch wieder unser allseits beliebter Freund, der Südwind, zu uns. Diesem schutzlos ausgesetzt bereiteten uns die folgenden 35 km entlang der Küste viel Freunde. Gelegentliche Kreiselversuche gab es auch wieder, aber irgendwie zerfiel die Gruppe dann, weil drei Leute vorn nicht warten wollten. Verzweifelte Versuche als Einzelkämpfer gegen den Wind wieder heranzukommen scheiterten. Das Problem klärte sich aber von selbst als vorne einem auf der letzten kleinen Abfahrt die Kette heruntersprang und er dabei irgendwie aus dem Gleichgewicht kam und sich hinlegte. Glücklicherweise war die Straße nass, sodass die Gleitreibung zwischen Radfahrer und Straße nicht allzu hoch war. Vereint ging es weiter auf dem wunderschönen Radweg, direkt entlang der Strände. Einige bogen noch vorzeitig ab, so dass am Ende ganze 3 Fahrer unserer Gruppe übrig blieben. Der erste, vormals hinten Herausgefallene, hatte plötzlich wieder Kraft und fuhr auf den letzten paar hundert Metern davon. Ich wartete dann aus Fairness auf den Anderen, denn wenn man schon die ganze Fahrt in einer Gruppe gekämpft hat, dann muss man sich am Ende ja nicht unbedingt gegenseitig aus den Latschen fahren, vor allem nicht, wenn es wie hier um nichts als die Unterstützung einer guten Sache ging. Gemeinsam überquerten wir dann nach 3:00 h reiner Fahrzeit (gesamt ca. 3:10 wegen der drei kleinen Zwangspausen) die Linie am Lichthaus in Wollongong und es soll im Bereich der Top 10 gewesen sein. Ein etwa 29-er Schnitt ist unter den gegebenen Umständen einschließlich der doch knapp 900 hm ok. Der 159-er Durchschnittspuls ist da schon eher etwas heftig. Zudem hoffe ich mal, dass sich das arktische Messgerät vor allem beim angeblich gemessenen Maximalpuls von 224 getäuscht hat.
Da das Wetter alles andere als einladend und ich nass war, verabschiedete ich mich von meinen verbliebenen Mannschaftskollegen, holte mein „lunch sandwich“ ab und fuhr die 4 km nach Hause. Da Sandra erst spät nach Hause kam, konnte ich gleich noch einen Livebericht abgeben. Nach gemeinsamem mittäglichem Frühstück mit meinen gerade erwachten Mitbewohnern und deren Partygästen wollte mein Körper dann nur noch Schlaf und so ordnete ich mich diesem Wunsch bereitwillig unter …
Was bleibt: Die wunderschöne Erinnerung an meine erste offizielle Radsportveranstaltung auf einem anderen Kontinent (und das nachdem ich nun schon beinahe 11 Monate hier bin). Und ich weiß nun auch wieder, was ich in dem vergangenen reichlichen Jahr vermisst habe. Brennende Oberschenkel, einen, den Brustkorb sprengen wollenden Herzschlag, den mit abrasiven Stoffen angereicherten Wasserstrahl vom Hinterrad des Vordermanns, der sowohl das morgendliche Zähneputzen als auch das Mitführen größerer Wasservorräte überflüssig macht, und das, alle vorgenannten Punkte in den Hintergrund drängende Hochgefühl, am Ende die weiße Linie überquert zu haben. In diesem Sinne. Rock’n’Roll
Dirkus
PS: Nun habe ich dem Picardellicspoeten doch in seinem Metier herumgepfuscht, zumindest in Bezug auf die Länge dieses Machwerks. Er möge mir verzeihen.
PS2: Wer es bis hierher geschafft hat, kann sich unter www.gongride.org.au noch einen kleinen visuellen Eindruck verschaffen, wo wir u.a. langgefahren sind (das Foto auf der Startseite zeigt die erst Anfang des Jahres fertiggestellte, millionenschwere Seacliff Bridge, welche sich ca. 30 km nördlich von Wollongong befindet).