
Während Picco mich Freitagnachmittag aus einem Windel- und Geschirrberg erlöste, mußte Holger noch sein Schichtende abwarten, um danach mit Frank zu mitternächtlicher Stunde mit seinem Rentner-Renault über die mondbeschienene Autobahn zu zuckeln. Das Tempo der Senioren beim abendlichen Kriterium führte zu einer längeren Phase der Depression bei Picco. Er hatte die irrige Hoffnung im nächsten Jahr seiner Radsportleidenschaft bei geruhsameren Tempo frönen zu können. Gesenkten Hauptes schleppten wir designierte Seniorenfahrer uns zur Startnummernausgabe und ließen den Abend beim reichhaltigen allinclusive Menü ausklingen. Die Nacht im Hotel war trotz Diskothek im Nachbarhaus und Schnellstraße durch unser Zimmer erholsam. Ein wesentlicher Vorteil des infinitesimal aber unaufhaltsam zunehmenden Alters ist die Fähigkeit des Gehörs störende Nebengeräusche dauerhaft auszublenden. Dazu kommt natürlich noch die zunehmende Nachsicht und Toleranz, die unser Leben und unsere Nachtruhe in immer stärkeren Ausmaß prägt.
Picco startete heute morgen kurz vor 9.oo Uhr als erster von uns auf dem welligen 7,8-Kilometer Rundkurs. Holger folgte mir nach 3 min und Neumi ging als vorletzter Jedermann vor dem Vorjahresdritten auf die windige Strecke. Auf der Ergebnisliste spiegelte sich diese Reihenfolge nicht ganz so wieder. Dass lag zum einen an dem gefahrenen Material - während drei Picardellics ohne explizites Zeitfahrequipment an den Start gingen - mußte ich neustes Zeitfahrmaterial einem harten und vor allem einem langen Belastungstest unterziehen. In der Konstrukteurswertung und der Bewertung von Form, Farbe und Haltung konnte ich maximale Erfolge einfahren. Damit war es ausgesprochen leicht, über die lächerliche und engstirnige Zeitfixierung meiner Mannschaftskameraden hinwegzusehen. Leider folgten die Kampfrichter des Zeitfahrens ebenfalls dieser einseitigen Sicht auf einen äußerst komplexen Sachverhalt.
Zu unserem Entsetzen hatten sich die cielab-Kopfjäger in dieser Randdisziplin des Radsportes zudem deutlich unter den ersten 10 platziert und somit eindeutiges Interesse an der Mannschaftswertung bekundet.
Vorjahresdritter Tilman holte Neumi schon vor dem mörderischen Anstieg ein und entfachte damit Neumis Ehrgeiz zu neuen, kraftvollen Höhenflügen. Derart adrenalingeschwängert platzierte Neumi sich dicht hinter Picco und ganz hauchdünn vor Holger.
Der Wind nahm auf unserer Rückfahrt nach getaner Arbeit (ich wie gesagt signifikant länger und damit natürlich ausdauernder) von der Wettkampfstrecke zum Hotel weiter zu und wehte uns am frühen Nachmittag dann zurück nach Lützeroda. Pünktlich 14.15 Uhr startete das Rundstreckenrennen über 8 Runden a 3,3 Kilometer.
Im Bestreben die Strecke und den Wind kenenzulernen, absolvierten wir vorher noch einige Testrunden. Dadurch standen wir am Start im hinteren Drittel des Feldes zwischen gezopften Waden, Weinballons im Flaschenhalter und familienzeltgroßen Trikots. Es dauerte deshalb einen Moment, bis wir uns an die Spitze vorgearbeitet hatten. Den Moment hatte Tilman, der Löwe genutzt um sich vom Feld abzusetzen und 8 Runden vorm Feld herzufahren. Er mußte sich auf den letzten Metern einem zweiten Ausreißer geschlagen geben und mit Platz 2 begnügen. Da der Sauerstoff etwas knapp, die Augen nur halb geöffnet und der analytische Verstand (keine Konstrukionswertung!) ausgeschaltet war, fiel uns das Fehlen des Führungsfahrzeuges an der gefühlten Spitze zu spät auf. Wir konzentrierten uns auf die anwesenden Mitfahrer und versuchten unsere Mannschaftsplatzierung etwas aufzupäppeln indem wir an gonna, dem Kopfjägergastfahrer, dranblieben. Jedes Zucken seiner austrainierten Studentenwaden (unsere Steuergelder) wurde von Picco und mir argwöhnisch beobachtet. Auf der kurzen Strecke würde uns nur rohe Kraft weiterhelfen, Geduld, Nachsicht und Toleranz waren hier, bei knapp 40 Minuten Fahrzeit fehl am Platz.
Holger unser Nachwuchsfahrer verlor in der dritten Runde die Geduld und schoß furios und unaufhaltsam aus dem Feld heraus. Seine Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer waren jedoch nur schwer mit dem Streckenprofil und dem orkanartigen Wind in Gleichklang zu bringen. Holger verging heldenhaft am Zielberg. Der spätere Sieger flog an Holger vorbei und verkürzte, vom Feld ignoriert, Meter um Meter zu dem tapfer auf seinem lila Stahlroß kämpfenden Tilmann.
Angesteckt von Holgers Heldenepos versuchte sich wenig später einer der getarnten Kopfjäger in einer Attacke. Seine Erfahrungen, seine Leiden und sein Schmerz waren bis weit hinter ins Feld spürbar.
Ab der 7. Runde entsprach die Geschwindigkeit des Feldes endlich einem erwähnenswerten Renntempo und man versuchte, den Abstand zu den Führenden zu verkürzen. Prompt riß auf dem Pflasterstück am Ende der Steigung ein Loch. Knapp 10 Fahrer konnten sich etwas absetzen. Glücklich darüber, das Picco in der Gruppe stecke, konzentrierte ich mich auf die Atmung und versuchte meine Augäpfel und Zunge zu entwirren. Im richtigen Moment fertig mit dieser feinmotorischen Höchstleistung, mußte ich bemerken, das einer der Kopfjäger zur ernsthaften Verfolgungsjagd ansetzte, obwohl gonna den Sprung in die Spitzengruppe geschafft hatte. Vielleicht hatte hier jedoch die Idee der Kopfjäger, als Mannschaft in unterschiedlichen Trikots anzutreten, zur eigenen und dauerhaften Verwirrung beigetragen. Egal welche Gründe zu der kannibalistischen Verfolgung führten, die Mannschaftswertung rekapitulierend und im Bestreben mein morgendliches Versagen zu kompensieren, blieb ich dran, am zügig rollenden Versandhandelsrad.
Im irrigen Glauben die 100 Meter allein zufahren zu können, schlug der Kannibale wilde Haken über die Straße. Wir ließen ihm seinen Willen und wechselten kräfteschonend mit Wölk und ESK durch. In der Abfahrt stellte ESK den Anschluß her und übte vorsichtige Zurückhaltung im Sprintgedrängel, seine Mühen spiegelten sich damit nicht in der Ergebnisliste wider, fanden jedoch Eingang in unsere Herzen. Und dort wurde der Schmerz eines zwei Jahre alten, völlig unbegründeten Vorwurfs ausgelöscht, getilgt und ersetzt durch Respekt, Achtung und ja, es ist schon ein Hauch "Liebe".
Wie gesagt, das Alter macht weise, tolerant und nachsichtig.
Im Zielsprint versucht sich Neumi nochmal vor mich zu setzen. Den Platz hatte Beate sich bis zur 4. Runde zu meinem wachsenden Entsetzen (ich, mitten im Frauenfeld) immer wieder erkämpft. Neumi verfügte jedoch nicht über Beates jugendliche Brutalität und diesen kaltschnäuzigen Siegwillen und gab unterwürfig nach. Knapp 50 glückliche Ehejahre trugen hier ihre devoten Früchte. Trotzdem reichte es für einen Sieg Neumis in der Ü40-Wertung, der seinen 2. Platz im Zeitfahren (einseitige, engstirnige Triathlonabart mit 10 Buchstaben) bestätigte.
Zwei Stunden warteten wir dann noch geduldig auf die Ergebnislisten. Die Technik spielte leider nicht mit und so müssen wir uns weiter bis morgen gedulden.
Morgen gibt es nun endlich ein Radrennen, was diesen Namen aufgrund Streckenlänge, Profil und Tempo auch verdient,
hofft,
Thomas